3. Reich Lebensborn E.V.rtf
sich über die kleinen, ahnungslos geballten Fäuste. Sie dachte an den großen Klaus. Und sie sagte in Gedanken: »Daß ich dich wenigstens habe ...«
In jeder schlaflosen Minute mündete die gleiche Frage: Wie soll das enden?
Dann zog sich die Reichsverteidigung bis an den Dorfrand zurück. Noch in der Nacht durchflutete die letzte Infanterieeinheit stumpf und verzweifelt die Straßen. Nur zwölf Hitlerjungen blieben noch. Ihr ältester war 15. Und er glaubte, es sei Zeit, zu sterben ...
Die Jungen waren weniger mit Waffen als mit Parolen ausgerüstet. Sie hatten Mut statt Vernunft, und Glauben statt Erfahrung. Sie vertrauten in des Führers Wunderwaffen, denn sie selbst konnten nur zwölf Gewehre und 50 Schuß gegen eine amerikanische Division einsetzen.
Am Dorfrand richteten sie sich zur Verteidigung ein, schichteten dünne Birkenstämme gegen alliierte Panzer und gruben sandige Mauselöcher gegen die feindliche Artillerie. Vor dem Gemeindeamt sammelten sich die Frauen. Doris hielt den kleinen, falschen Klaus auf dem Arm.
»Schickt doch die Rotzjungen nach Hause!« riefen die Dorfbewohner.
In der Amtsstube stand der Bürgermeister vor einem Pionierleutnant, der seine Stiefel besah.
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»Was soll ich machen?« fragte der Bauer dumpf den Offizier.
»Machen Sie, was Sie wollen«, brummte der Leutnant. »Die Amis kommen so oder so ... Morgen früh sind sie spätestens da
... fragt sich bloß, ob sie Ihr Dorf vorher noch kaputtschießen
...«
Der Bürgermeister sah auf seine breiten Hände und fühlte den Boden, den er ein Leben lang beackert hatte. Er ging schweigend hinaus, nahm zwei Nachbarn mit. Die Frauen bildeten eine Gasse, sie atmeten auf.
Als Doris ihr Kind zu Bett brachte, nahmen die beherzten Männer den Hitlerjungen die Waffen weg, räumten die Birkenstämme beiseite und vertrieben die murrenden
›Verteidiger‹.
Alles wartete. Aber die Amis kamen nicht. Nicht am Abend. Nicht in der Nacht. Nicht am Morgen. Es blieb unheimlich still. Anstelle der feindlichen Panzer fuhr am nächsten Vormittag ein deutscher Militärwagen durch das Dorf. Ein Ledermantel stieg aus. Ihm folgten drei Soldaten mit schwarzen Spiegeln an den Kragenaufschlägen. Doris schob den dünnen Vorhang auseinander. Ihre Hände zitterten. Der Ledermantel sprach mit den Hitlerjungen. Zögernd kamen die Menschen aus den Häusern. Auch Doris.
Sie blieb auf halbem Wege stehen, als habe sie einen elektrisch geladenen Zaun berührt. Dieses Gesicht kannte sie, hatte sie nie vergessen, würde sie nie vergessen: es war breit und bullig, und es hatte die ureigenen Züge des Obersturmbannführers Westroff-Meyer.
Er brüllte. Doris ging sofort ins Haus zurück. Sie wollte und konnte den Mann nicht sehen. Sie redete sich ein, eine Vision gehabt zu haben, und mochte sich nicht vergewissern. Er war es. Im Gegensatz zu seinem Führer hatte er rechtzeitig begriffen, daß es keinen Ausweg aus der Mausefalle 279
Berlin gab. Und der Mann, der den biologischen Wahnsinn gepredigt, den Kinderraub in Polen exerziert und den Mord kommandiert hatte, wollte nicht für den Führer sterben, sondern für ihn weiterleben. Als man zuverlässige Mörder suchte, die als Vorsitzende fliegender Standgerichte bereit waren, den verlorenen Krieg zu verlängern, meldete er sich freiwillig. An dem Strick, den er von nun an täglich deutschen Soldaten um den Hals legte, wollte er sich aus der Falle ziehen. Während seine Männer die Gurte herrichteten, inszenierte er eine Farce von Standgericht. Der Bürgermeister und die Männer, die den Hitlerjungen die Waffen weggenommen hatten, wurden verhaftet und gefesselt. Die Fünfzehnjährigen machten trotzige Gesichter. Ihre Opfer sahen durch WestroffMeyer hindurch auf die Straße, auf der die Amerikaner nicht kamen.
»Ihr Lumpen!« brüllte der Obersturmbannführer. Die Bewohner ballten die Fäuste. Aber sie hatten keine Waffen.
»Haben Sie die HJ am Kampf gehindert?« dröhnte WestroffMeyer.
»Es hat doch keinen Sinn mehr«, antwortete der Bürgermeister müde.
»Sinn?« Die Stimme überschlug sich, heulte hinauf und hinunter. »Verräter! ... Deserteure! ... Geben das auch noch zu!
... An die Bäume mit euch Schweinen!«
Westroff-Meyer streckte den Arm aus. Feldherrngeste eines Verbrechers. Endlich schwamm er auf der höchsten Woge seines Wunschtraums. So wollte er schon immer herrschen. So wollte er mit Hauptmann Steinbach verfahren. Manchmal sprang ein Funke der Erinnerung über. Und dann verzerrte sich jetzt
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