30 - Auf fremden Pfaden
einen Seiteneingang, wo niemand uns belästigte, und einige schmale, dunkle Gänge in ein Gewölbe, in welches wir eingeschlossen wurden.
Girard hatte seinen Knaben noch in den Armen. Niemand war auf den Gedanken gekommen, ihm denselben zu nehmen.
„Verloren, alles verloren!“ klagte er. „Endlich, endlich habe ich mein Kind gefunden und nun soll ich sterben!“
„Still!“ bat ich. „Ich habe Hoffnung.“
„Jetzt noch Hoffnung?“
„Ja.“
„Woher können Sie dieselbe schöpfen?“
„Ich hoffe auf den Tempeldiener, welcher uns arretiert hat.“
„Der ist ja der schlimmste, sonst hätte er uns nicht arretiert.“
„O, nein. Er hat uns verhaftet, um uns den hundert Händen zu entreißen, welche sich ausstreckten, um uns zu vernichten.“
„Sie sind wirklich ein seltener Mann, Monsieur! Ich glaube, Sie stehen noch im Grab einmal auf und sagen, daß Sie lebend sind!“
„Der Mensch darf sich nie verloren geben. Sie haben Ihren Armand. Seien Sie einstweilen zufrieden und verzweifeln Sie nicht. Für den schlimmsten Fall habe ich meine Revolver. Zwölf Schüsse sind etwas wert, wenn sie im richtigen Augenblick fallen.“
Er setzte sich nieder, ließ den Knaben, der ihn nach zwei Jahren wiedererkannt hatte, nicht von seinem Herzen und sprach in den zärtlichsten Tönen auf ihn ein. Da wurde die Tür geöffnet. Draußen stand der, auf den ich hoffte.
„Kommt!“ sagte er.
„Wohin?“ fragte ich.
„Du wirst es erfahren. Schnell, schnell!“
Wir gingen hinaus. Er schob den schweren Riegel wieder vor und führte uns durch mehrere dunkle, leere Gänge und Gewölbe, bis wir plötzlich im Freien standen. Kein Mensch war zu sehen.
„Effendi, wo habt ihr euer Quartier?“ fragte er.
„Wir haben keins. Wir waren erst angekommen.“
„Eure Pferde?“
„Draußen vor der Stadt.“
„So geht; aber eilt nicht wie Fliehende, sondern lauft langsam wie Leute, welche gerechte Sache haben. Ihr habt Zeit. Der Oberste der Moschee war nicht zu finden. Aber wage nicht zum drittenmal, nach Kaïrwan zu kommen, denn ich könnte dich wahrlich nicht so leicht retten, wie heut.“
„Warum läßt du uns überhaupt entkommen?“
„Aus Dankbarkeit, Effendi.“
„Du sagtest doch in Kairo zu mir, daß wir quitt seien!“
„Damals dachte ich es. Dann aber las ich das heilige Buch der Christen, welches du mir geschenkt hast, und je mehr ich in demselben las, desto mehr sah ich ein, daß wir nicht quitt sind, sondern daß ich dir dieses Geschenk niemals vergelten kann. Es ist mehr, mehr wert als alles, was ich sonst habe; es ist – ist – ist sogar mehr wert als diese große, herrliche Moschee des heiligen Okba Ben Nafi, die du nun zum zweitenmal geschändet hast.“
Da legte ich ihm die Hand auf die Schulter und fragte:
„Schändest du sie nicht auch? Ja, schändest du sie nicht täglich und stündlich?“
„Ich? Wieso?“ fragte er erstaunt.
„Sie ist dir weniger wert als das Buch, welches ich dir gegeben habe. Du glaubst an das, was in diesem heiligen Buch steht; du bist also in deinem Herzen ein Ungläubiger, ein Giaur geworden und betrittst doch täglich die Moschee als Diener an derselben!“
Er blickte vor sich nieder, hob dann die Augen zu mir, sah mir lange in das Gesicht, reichte mir die Hand und sagte:
„Effendi, ich schweige; aber ich danke dir!“
„Hast du die Deinen bei deiner Rückkehr gesund und wohl gefunden?“
„Ja, Effendi. Ich habe ihnen von dir erzählt und daß sie mich ohne deine Güte nie wiedergesehen hätten. Ich lese ihnen täglich aus deinem heiligen Buch vor, und ihnen ist, so wie mir, Jesus, der Sohn Gottes, lieber, tausendmal lieber geworden als Mohammed, der Menschensohn. Nun aber geht, und kommt niemals wieder!“
„Höre“, lächelte ich ihn an; „o, sag' mir einmal aufrichtig, ob du mich nicht auch zum drittenmal retten würdest, wenn ich wiederkäme!“
„Effendi, du bist mein Wohltäter und ein Christ; ja, ich würde dich wieder retten, denn – – – wir sind noch lange, lange nicht quitt; ich kann meine Schuld gegen dich niemals abtragen. Lebt wohl!“
Er wandte sich zurück und verschwand hinter der Tür. Wir spazierten langsam zur Stadt hinaus und gelangten glücklich zu unseren Pferden. Wie unerwartet schnell war das gegangen! Und mit welchen ganz anderen Gefühlen ritt Girard nun nach Norden, als er vorher nach Kaïrwan geritten war!
In Hammamat trafen wir ein Schiff, mit welchem wir nach Tunis fuhren.
Das Entzücken der Mutter beim
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