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30 - Auf fremden Pfaden

30 - Auf fremden Pfaden

Titel: 30 - Auf fremden Pfaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Kistchen zurück, welches er öffnete, indem er sich wieder niedersetzte. Es enthielt viele winzig kleine Fläschchen; er hielt mir eines hin und forderte mich auf:
    „Betrachte dies Fläschchen und errate, was es enthält! Du wirst bereit sein, mir Geld, sehr viel Geld dafür zu geben.“
    Ich hatte kein einziges Wort mehr mit ihm wechseln wollen und war überzeugt, daß mit den Fläschchen irgend ein Schwindel verbunden sei; aber es war doch von Interesse, diesem Schwindel auf die Spur zu kommen. Darum nahm ich es. Es enthielt eine ölige Flüssigkeit; auf der geschriebenen Etikette standen die Worte ‚Iagh kuds‘ (Heiliges Öl = Salböl); der Stöpsel war zugesiegelt. Das Siegel zeigte in Neskhi-, also arabischer Schrift, doch so klein, daß ich es kaum lesen konnte, den Namen Musa (Moses) Wardan. Sofort flog mein Blick zu seinen Händen. Er trug an der rechten einen Siegelring, dessen Platte genau die Größe und die Gestalt des Siegels auf dem Fläschchen hatte. Die Gravierung konnte ich natürlich nicht erkennen.
    „Nun, was ist's?“ fragte er.
    „Öl.“
    „Aber was für welches?“
    „Ganz gewöhnliches.“
    „Du irrst. Es ist das heilige Salböl, vom heiligen Katholikos in Etschmiadzin am Berg Ararat eigenhändig bereitet und eingepackt und versiegelt.“
    „Von ihm selbst?“
    „Ja, sogar mit seinem eigenen Petschaft und Namenszug.“
    „Das verkaufst du?“
    „Ja. Ich bin sein Liebling und Abgesandter und der allereinzige, dem er erlaubt hat, es zu verkaufen.“
    „Kann ich ein Fläschchen haben?“
    „Ja.“
    „Zu welchem Preise?“
    „Es führt jeden Toten, der damit gesalbt wird, sofort in den Himmel und ist darum sehr teuer. Das Fläschchen kostet eigentlich zweihundert Piaster; ich will es dir aber für hundertfünfzig lassen.“
    Das waren ungefähr achtundzwanzig Mark, für ein bißchen profanes Öl, welches kaum einen Pfennig kostete. Ich gab es ihm mit den Worten zurück:
    „Da nimm es wieder! Ich mag es nicht.“
    „Warum? Ist es dir zu teuer? Was bietest du?“
    „Nichts, gar nichts.“
    „Nichts? Gott! Für ein Öl, welches den damit Gesalbten direkt in den Himmel führt!“
    „Doch nicht etwa dieses Öl?“
    „Natürlich dieses!“
    „Schwindel!“
    „Das wagst du zu behaupten?“
    „Ja. Ich war viermal in Etschmiadzin und habe während meines Aufenthaltes dort in dem Dorfe Wagharschabad gewohnt. Ich kenne den Namen des Katholikos; mich betrügst du nicht.“
    „Das ist doch sein Name hier auf dem Siegel.“
    „Du scheinst anzunehmen, daß ich nicht lesen oder die Schrift nicht erkennen kann. Der Name auf dem Fläschchen heißt Musa Wardan und scheint der deinige zu sein.“
    „Bist du toll? Der meinige?“
    „Ja, zeig her!“
    Ich faßte seine Hand, zog sie nahe zu mir heran, warf einen Blick auf den Ring und fügte dann hinzu:
    „Dieser Ring gehört dir?“
    „Ja.“
    „Er trägt denselben Namen. Du bist ein Schwindler und Betrüger, und ich habe nichts mit dir zu schaffen.“
    „Effendi, geh ja nicht zu weit!“ rief er drohend, indem er mit der Hand nach dem Gürtel fuhr. „Ihr habt euch als berühmte und tapfere Leute gebrüstet; ich fürchte euch aber nicht!“
    „Pah! Laß dein Messer stecken, sonst schlage ich dir deine Habichtsnase so breit, daß man sie für eine Boghatscha (Maiskuchen) hält. Du nennst dich Dawuhd Soliman und heißest doch Musa Wardan; ist das nicht Schwindel? Der Katholikos selbst soll dein Siegel aufgedrückt haben; ist das nicht Lüge? Deine schismatische Kirche erlaubt nur, daß die Leichen der Priester, nicht aber diejenigen der Laien gesalbt werden, und du willst dieses sogenannte Iagh kuds an alle Menschen verkaufen; ist das nicht Betrug oder etwas noch viel Schlimmeres? Du hörst, daß mir die Lehren und Gebräuche eures Schismas wohlbekannt sind, obgleich sie mich nichts angehen; mich täuschst du nicht.“
    „Wie? Sie gehen dich nichts an? Du bist also kein Aiyrmaki (Abgesonderter, Schismatiker) wie ich?“
    „Nein.“
    „So hole dich der Teufel, du Hund von einem Rafys (Ketzer). Ich werde mich dreimal waschen müssen, weil dein Anblick mich verunreinigt hat.“
    Er stand auf; aber in demselben Augenblick stand ich neben ihm und gab ihm eine so kräftige Ohrfeige, daß er wieder zum Sitzen kam. Er schnellte empor und zog das Messer; da aber hielt ihm Halef auch schon die gespannte Pistole entgegen und drohte:
    „Weg mit dem Messer, Schurke, sonst schieße ich dir zwei Kugeln in den Leib, daß sie mitten in deiner

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