30 - Auf fremden Pfaden
Winnetous, welcher ein weiteres Vordringen untersagte, weil dadurch die Spuren der Entflohenen verdorben würden. Man gehorchte ihm; ich aber ging weiter. Als ich ihn erreichte, sagte er:
„Mein Bruder wird gehört haben, was geschehen ist. Wir müssen – – –“
Er hielt inne und lauschte in die Nacht hinaus. Es war der Hufschlag eines Pferdes zu hören, welches sich uns langsam näherte. Wir gingen ihm mit gespannten Revolvern entgegen. Diese Vorsicht war unnötig, denn es saß niemand darauf. Es war das Pferd des jungen Fletcher. Als wir es an das wieder angefachte Lagerfeuer brachten, sahen wir, daß es hinten mit Blut bedeckt, aber doch unverletzt war. Es mußte einer der Reiter von einer Kugel des Postens getroffen worden sein. Das Pferd hatte beide abgeworfen und war dann zurückgekehrt. Nun war es gewiß, daß wir die Entflohenen finden würden. Wir konnten also bis zum Morgen warten.
Als der Tag zu grauen begann, machten wir uns auf die Suche. Wir brauchten gar nicht weit zu gehen. Von der Stelle aus, wo die beiden Fletcher gesehen worden waren, führte uns die Fährte zunächst nicht weiter als höchstens tausend Schritt. Dort lag der Sohn, tot und schon kalt. Die Kugel war ihm von hinten in die Brust gedrungen, und er hatte sich also kaum einige Sekunden auf dem Pferd halten können. Dieses war mit dem Alten weiter gelaufen. Infolge seiner erblindeten Augen hatte er es falsch gelenkt, nämlich nach einer Felsenwand, die wohl dreißig Meter tief nach dem Fluß abwärts fiel. Dort hatte das Pferd nicht weiter gewollt und ihn abgeworfen. Als wir über die Kante hinunterblickten, sahen wir ihn liegen. Er lebte noch, denn wir sahen, daß er sich bewegte, und hörten ein schwaches Wimmern.
Ich bin nie schwindelig gewesen, aber jetzt schwindelte mir doch, nur infolge des Gedankens, daß der zweite Teil seiner Lästerung auch eingetroffen war. „Ich will erblinden und zerschmettert werden“, hatte er gesagt, und nun lag er da unten!
Wir holten den nötigen Beistand und stiegen seitwärts, wo es nicht gefährlich war, hinab. Als wir ihn erreichten, lag er da, noch immer wimmernd und die geschwollenen Augen halb geschlossen. Ich kniete bei ihm nieder und fragte:
„Mr. Fletcher, hört Ihr mich? – Versteht Ihr mich?“
Er öffnete langsam die Lider. Die von Pulverkörnern dicht betüpfelten Augäpfel glotzten mich starr an; aber eine Antwort bekam ich nicht.
Ich wiederholte meine Frage, doch mit demselben Mißerfolg. Nun untersuchten wir ihn. Der Kopf zeigte keine äußere Verletzung, aber beide Arme und beide Beine waren gebrochen.
„Zerschmettert, wie er wollte!“ flüsterte mir Winnetou zu.
Jedenfalls war er auch innerlich schwer verletzt. Als wir den Versuch machten, ihn aufzuheben, stieß er ein Geschrei aus, welches wie das ununterbrochene Gebrüll eines Tigers klang und kein Ende nehmen wollte. Unter den furchtbaren Schmerzen, welche er litt, schien ihm die Besinnung zurückzukehren, denn als ich ihn jetzt wieder fragte, ob er mich höre und verstehe, hörte er auf zu brüllen und antwortete:
„Wer ist's? – Wer ist da?“
„Old Shatterhand und Winnetou.“
„Wo ist mein Sohn?“
„Er ist tot.“
„Erschossen?“
„Ja.“
„Er – schos – sen“, stammelte er, „er – schos – sen! Daran – bin – ich – schuld!“
„Ja, Ihr seid schuld an allem, an Euerm schrecklichen Tod und auch an dem traurigen Ende Euers Sohnes!“
Er ächzte tief, tief auf und schloß die zerschossenen Augen wieder. So lag er eine ganze Weile da, bewegungslos und ohne einen Laut. Da fragte ich ihn:
„Seid Ihr noch wach? – Hört Ihr mich noch?“
„Ja“, hauchte er.
„Ihr habt nur noch wenige Minuten zu leben, denkt an den Tod; denkt an Eure Sünden und an das ewige Gericht! Denkt aber auch an Gottes Barmherzigkeit, die ohne Ende ist!“
„Got – tes Barm – her – zig – keit!“ klang es von seinen mit Blut unterlaufenen Lippen.
„Sagt endlich die Wahrheit! Habt Ihr die beiden Pa-Utes erschossen?“
„Ja“, gestand er.
„Sind Euch diese Sünde und alle früheren Sünden, welche Ihr begangen habt, leid?“
„Leid – leid – oh – leid! Betet – für – mich – ein – Vater – unser!“
„Hört vorher, was ich Euch noch sage! Wenn Euch Eure Missetaten leid sind, so dürft Ihr in der Überzeugung sterben, daß der Allbarmherzige Euch ein gnädiger Richter sein wird. Gehet mit dieser Hoffnung ein ins ewige Leben! Und nun wollen wir
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