301 - Libretto des Todes
wiederum kaum ein Wort. Dafür zeigte sich Xij umso gesprächiger. »Hast du es übrigens auch bemerkt?«, fragte sie Matt unvermittelt.
»Was soll ich bemerkt haben?«
»Dieser Annder. Er sieht Wahnfried ähnlich! Es ist nicht allzu offensichtlich, aber ich habe schon immer einen Blick für so was gehabt. Sie haben den gleichen Mund, den gleichen Lippenschwung, das gleiche ausgeprägte Kinn und die gleichen Augen. Und ihre Ohren haben diesen seltsam abgeplatteten Oberteil.«
»Was willst du damit sagen? Dass die beiden miteinander verwandt sind?«
»Was sonst? Ich tippe darauf, dass Annder Wahnfrieds Sohn ist. Vielleicht auch sein Neffe.«
»Hm.« Matt nickte bedächtig. Wenn er an Wahnfrieds Lebenswandel dachte, konnte er sich gut vorstellen, das Barreut von seinen unehelichen Kindern nur so wimmelte. Aber eigentlich interessierte es ihn nicht.
»Wir reisen morgen früh weiter«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass wir hier irgendwas über den Heiler erfahren. Wir werden uns in Neuschwanstein selbst davon überzeugen müssen. Ich bin sicher, in der näheren Umgebung des Schlosses kennt man den Kerl.«
Aber Xij Hamlet legte Einspruch ein. »Mir geht’s wieder ganz gut, Matt. Ich möchte unbedingt noch ein paar Tage hier bleiben. Ich bin sehr neugierig, was Gunnter aus meiner Erzählung macht. Und ich habe Wahnfried vorhin das Versprechen abgerungen, dass wir bei Gunnters Aufführung dabei sein dürfen.«
Matt Drax war das alles andere als recht. Da er Xij aber nicht überreden konnte, stimmte er zähneknirschend zu.
***
Der dunkle Schatten kam über die Dächer Barreuts. Geschickt turnte er über Vorsprünge und Kanten und sprang schließlich mit einem eleganten Satz auf einen kleinen Balkon im dritten Stock. Mit einem Schlüssel öffnete er die Tür und drang in das ruhig daliegende Haus ein. Er huschte durch ein großes Zimmer, in dem das einfallende Mondlicht dämmriges Grau verbreitete. Dadurch konnte er die Konturen der hier stehenden Möbel gut erkennen, aber er wäre selbst bei absoluter Finsternis nirgendwo angestoßen. Zu oft hatte er nächtens diesen Weg schon gemacht; er kannte jeden Schritt.
Der Eindringling trat auf einen Flur hinaus und ging ein paar weitere Schritte bis zur nächsten Tür. Er schaute sich sichernd um, dann öffnete er sie und huschte ins dahinter liegende Zimmer. Ein großes Bett stand in der Mitte des Raumes. Die Gestalt, die darin schlief, schnarchte leise.
Der nächtliche Besucher trat dicht an das Bett heran, ging auf die Knie und schlug die Kapuze nach hinten. Dann rüttelte er die Gestalt sanft am Oberarm.
Das Schnarchen erstarb, die Gestalt schmatzte ein paar Mal und öffnete die Augen. Vor Schreck riss sie sie weit auf. Gleichzeitig fuhr sie hoch. Ein Röcheln stieg aus ihrer Kehle, als sie das bleiche, totenkopfähnliche Gesicht vor sich in der Dunkelheit schimmern sah. Der Eindringling presste ihr eine Hand auf den Mund, die Gestalt sank zurück und entspannte sich. Sie wischte die Hand beiseite.
»Roosa«, flüsterte sie. »Heute Nacht habe ich nicht mit dir gerechnet.«
»Gib mir dein Blut«, flüsterte die Nosfera gierig.
»Ja, ist ja gut. Du bekommst es. Gib mir das Messer, dort, auf dem Nachttischchen.«
Roosa tastete nach dem kleinen Messer und reichte es weiter. Zitternd sah sie zu, wie ihr Gegenüber den Unterarm mit einem tiefen Schnitt öffnete. Als das Blut daraus hervor quoll, konnte sich die Nosfera nicht mehr beherrschen. Mit einem Knurren beugte sie sich über die Wunde, presste ihre Lippen darauf und soff gierig.
***
»Ich glaube, ich bin noch aufgeregter als Gunnter selbst«, sagte Xij beim Frühstück zu Matt. »Heute ist es endlich so weit und ich glaube, ich hätte es keinen Tag länger ausgehalten. Weißt du, irgendwie sehe ich das Ganze auch ein wenig als meine Oper an. Ich hoffe so sehr, dass sie gelingt.«
Matthew Drax nickte. Die letzten Tage hatten sie Gunnter kaum noch zu Gesicht bekommen. Der Operateer hatte sich richtiggehend verschanzt; und zwar mit einem Dutzend Truveers im Mystischen Abgrund, um dort fast rund um die Uhr zu proben. Wahnfried hatte seinem Freund die Probenbühne zur Verfügung gestellt und Annder mit zuckersüßem Lächeln erneut auflaufen lassen: Gunnter habe einfach zuerst gefragt, sonst hätte Annder die Halle selbstverständlich auch für sich haben können, gegen einen entsprechenden Obolus natürlich.
Mit der Droschke fuhren Matt und Xij auf den »Hellgrünen Hügel«. Der Oberfraank machte zwei
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