301 - Libretto des Todes
›Mystische Abgrund‹. Matt schätzte die Probenhalle, die von außen einer viereckigen, lang gezogenen Fabrikhalle glich, auf achtzig Meter Länge und rund sechzig Meter Breite.
»Warum hat Haagen diesen hässlichen Bau überhaupt errichtet?«, erkundigte er sich.
»Weil er eine Vision hatte, mein lieber Freund.« Wahnfried betrachtete sinnend den Mystischen Abgrund. »Ihm widerstrebte es, neben den Meister-Wagner-Aufführungen auch die Proben im Festspielhaus stattfinden zu lassen. Das war ihm zu ordinär, da ihnen die gottgleiche Einmaligkeit der Aufführungen fehlte. Ich teile diese Auffassung übrigens nicht, bin aber doch ganz froh über den Mystischen Abgrund. So wird das Festspielhaus geschont. Es kommt allmählich in die Jahre. Ich liebe diese alten Mauern, in denen noch Wagners Geist steckt, aber sie sind doch sehr marode geworden. Es wäre schade, wenn sie irgendwann über mir zusammenkrachen würden.«
***
Fast zwei Stunden lang plauderte Wahnfried mit seinen Gästen. Dann begann er sich müde zu fühlen und machte keinen Hehl daraus. Sein ungeniertes Gähnen kam praktisch einem Rausschmiss gleich. Doch Xij wollte noch schnell die Technik der Bühnenversenkung begutachten.
Als sie durch eine Luke unter die Bühne verschwunden war, nahm Wahnfried Matt beiseite und klopfte ihm jovial auf die Schulter. »Weißt du, Maddrax, es ist wunderbar für das Ansehen eines älteren Mannes, wenn er sich in der Öffentlichkeit mit einer jungen hübschen Frau an seiner Seite zeigen kann. Doch so eine Verbindung hat auch seine... nun, Schwierigkeiten.« Er kicherte leise. »Vor allem, wenn der Körper der jungen Frau sich permanent nach dem eines Mannes sehnt, der eigene jedoch ihre Bedürfnisse nicht mehr zu ihrer vollsten Zufriedenheit erfüllen kann. Du verstehst, was ich meine?«
»Äh... ich denke schon.« Worauf wollte Wahnfried hinaus?
»Na siehst du. Und genau so ist es mit meiner Noora und mir. Ich habe kein Problem zu sagen, dass meine besten Tage vorüber sind, denn ich hatte in dieser Beziehung eine Reihe sehr guter, ja man könnte sagen orgiastischer Jahre...«
Matt dachte an die Aufführung. Wenn er sie als Maßstab nahm, untertrieb Wahnfried im Moment sogar noch.
»Weißt du, Maddrax«, fuhr der Festspielmeister fort, »ich liebe Noora sehr und möchte, dass sie glücklich ist. Sie scheint einen Narren an dir gefressen zu haben. Deswegen möchte ich dir sagen, dass du auf mich keine Rücksicht nehmen musst. Im Gegenteil. Du tätest mir sogar einen großen Gefallen, wenn du ihr mit vollen Händen gibst, was ihr Körper verlangt.«
Matt überlief es heiß und kalt. Das kann ja wohl nicht wahr sein! »Äh, ich...«
Wahnfried klopfte ihm erneut auf die Schulter. »Tu einfach das, was auch dein Körper will. Du bist ein junger starker Mann und hast sicher sehr viel Kraft in deinen Lenden.«
Xij kam zurück und selten war Matt so froh darüber gewesen. Wahnfried ließ es sich nicht nehmen, seine Gäste nach draußen zu begleiten. Am Zaun, an dem nach wie vor die Fraanks patrouillierten, verabschiedete er sich. Dabei sah er die Droschke in einer Reihe anderer Gefährte vor einer Fackelreihe stehen. Wahnfried stutzte und musterte die hagere Gestalt im dunklen Mantel, die davor stand, ganz genau.
»Ist das nicht Roosa?«, fragte er.
Matt nickte. »Ja. Sie fährt uns. Kennst du die Dame?«
»Dame ist gut.« Wahnfried kicherte. »Ich kenne Roosa in der Tat. Vor drei Jahren habe ich sie und ihre Begleiter, die zufällig in Barreut waren, für meine damalige Opera ›Vampira‹ angeworben. Die Nosfera sollten die Kinder der Nacht mimen. Ich dachte, dass sie das besser könnten als jeder normale Akteer. Nun, meine Intuition hatte mich nicht getrogen. Mehr noch: Die Nosfera spielten so überzeugend, dass die Zuschauer, vor allem kleinere Kinder, Angst vor ihnen bekamen und meine Opera nach zahlreichen Protesten abgesetzt werden musste.« Der Festspielmeister klopfte sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »Das war wirklich ein Skandal allererster Güte. Leider kam es danach zum Streit mit Roosa, denn sie wollte nicht einsehen, dass ich ihr und ihren Leuten die vereinbarte Gage ersatzlos streichen musste. Bevor es allerdings zu ernsthaften Streitigkeiten kam, ist mein alter Freund Gunnter eingesprungen und hat die Nosfera für die nächsten vier Jahre gegen gute Bezahlung in seine Dienste genommen. Roosa und ich gehen uns aber seither lieber aus dem Weg.«
Auf dem Rückweg in der Droschke sprach Roosa
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