303 - Tod einer Königin
wollte, dann trat aus der Hütte. Dutzende Männer, Kinder und Frauen standen schon vor ihren Behausungen und auf dem Dorfplatz. Viele neugierige Blicke trafen Aruula.
»Gehen wir«, sagte der Junge. Er drehte sich um und marschierte quer über den Dorfplatz nach Norden. Aruula folgte ihm. Die Leute grüßten, Aruula nickte wortlos nach links und rechts.
Bald lag das Dorf hinter ihnen. Morgendunst stieg aus den Wiesen. In der Ferne schrien Möwen. Ein Gerul verschwand in seinem Bau.
»Warum willst du wieder weg?«, fragte der Junge, ohne sie anzusehen.
»Ich will nicht weg, ich muss nur für ein Weilchen allein sein.«
»Um darüber nachzudenken, ob du Königin werden willst oder nicht?«
»Du weißt Bescheid?« Aruula hätte es sich denken können. Allerdings schien er nichts über die Vision zu wissen. Es wäre auch indiskret von Juneeda gewesen, das kundzutun.
»Alle wissen Bescheid. Man redet über nichts anderes mehr auf den Dreizehn Inseln.«
»Du weißt nur, was auf der Königsinsel geredet wird. Auf den anderen Inseln haben sie sicher Wichtigeres zu besprechen.«
»Stimmt nicht!«, platzte es aus dem Jungen heraus. »Gestern war ich auf der Möweninsel und der Eselsinsel. Und am Abend habe ich gehört, wie Mutter mit Kriegerinnen von der Astrid-Insel gesprochen hatte. Sie sprachen über dich.«
»Und was haben sie gesagt?«
»Dass du Königin sein wirst.«
»Ich muss darüber nachdenken.« Aruula vertrieb eine Mücke von ihrem Gesicht. »Deswegen will ich ein paar Tage allein sein, stimmt schon.«
»Wenn sie mich zum König berufen würden, müsste ich keinen Moment nachdenken«, erklärte der Junge. »Ich würde einfach ›ja‹ sagen, und fertig.«
»Sofort?«
»Sofort.«
Niemand würde ihn jemals fragen. Ein König der Dreizehn Inseln – unvorstellbar. Ob er darunter litt, ein Mann zu sein? Noch nie hatte Aruula sich gefragt, ob ein Mann auf den Dreizehn Inseln gern ein Mann war, oder ob er lieber eine Frau wäre. Nicht unbedingt, um Königin zu sein, aber um als Kriegerin die Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren, die man auf den Dreizehn Inseln eben ausschließlich als Frau erfahren konnte. Sie fragte sich dies zum ersten Mal; jetzt, da sie hinter diesem Jungen hertrottete.
Er führte sie zu den Dünen der Nordküste. Nicht nur über Gras und Gestrüpp hing der Morgendunst, auch über dem Meer. Aruula sah es von weitem.
»Ist mein Vater auch ein König?« Er wandte den Kopf und sah zu ihr hoch.
Im selben Augenblick, als er die Frage aussprach, erschien sie ihr naheliegend, geradezu selbstverständlich. Merkwürdig. »Ein König?« Aruula zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob man ihn so nennt, aber eine Art König ist er schon.« Rulfans Gestalt stand ihr lebhaft vor Augen auf einmal. »Er hat eine Burg, wie Könige sie haben. Vor allem aber ist er ein sehr königlicher Mensch.«
»Sehe ich ihm ähnlich?«
»Verlass dich darauf.«
»Wie ist er so?« Sie erreichten die Dünen und stiegen hinauf.
»Eher ein stiller Mann.« Aruula suchte nach Worten. »Wirklich wahr, er redet im Schnitt weniger als die meisten anderen Männer. Er handelt lieber.«
»Und was tut er, wenn er handelt?« Er winkte sie in eine Schneise zwischen den Dünen. Von dort führte ein ausgetretener Pfad zu einer kleinen Bucht.
»Was er sich vorgenommen hat.« Die Antwort fiel ihr ein, ohne dass sie lange nachdenken musste. »Ja, er tut, was er sich vorgenommen hat. Und glaub mir – bevor das tut, hat er lange nachgedacht.« Während sie über Rulfan sprach, merkte sie, wie sehr sie ihn mochte und achtete. »Und wenn er dann handelt, hört er nicht auf, bis getan ist, was er sich vorgenommen hat.«
Schweigend führte er sie zur Bucht. Offenbar dachte er über ihre Worte nach. Aruula fragte sich, ob sie Rulfan nicht vermissen würde. Die Antwort lag auf der Hand: Sie vermisste ihn bereits. Und Maddrax? Nein! Bitterkeit stieg in ihr auf. Maddrax wollte sie nie wiedersehen.
Felsen erhoben sich an der Westseite der Bucht. Dort lag in einer Grotte ein Ruderboot. Unter einer Lederdecke steckten die Ruderblätter, ein paar Decken und ein Felltornister mit Proviant. Gemeinsam holten sie das Boot aus der Grotte und schoben es in die Brandung.
»Ist er ein harter Mann?« Aufmerksam betrachtete der Junge sie von der Seite.
»Dein Vater?« Aruula schüttelte den Kopf. »Wenn man ihn nur oberflächlich kennt, könnte man es manchmal meinen.« Seite an Seite wateten sie in die Brandung und schoben das Boot
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