303 - Tod einer Königin
seinen Käfig. Eine Kraft, die Grao’sil’aana sich nicht gleich erklären konnte, hob ihn an. Er schaute nach oben – und erkannte einen weiteren, größeren Kranarm! Und den Haken und das Seil, die den Käfig mit dem Kran verbanden.
Befehle hallten in dem riesigen, halbdunklen Gewölbe wider. Der Käfig schwebte höher, wurde über das Geländer geschwenkt, senkte sich schließlich nach und nach ab.
Grao’sil’aana alias Hermon starrte in den Arenakessel hinunter. Ein gewaltiges grauweißes Pelztier richtete sich dort unten auf den Hinterläufen auf. Sein buschiger Schweif peitschte Staub und Gebeine auf, sein mächtiger Rachen triefte von Schleim, zwei Reihen langer spitzer Zähne funkelten im Schein der Fackeln, die an der Arenawand brannten. Seine Pranken waren riesig wie die Ruderblätter einer großen Galeere und schlugen Löcher in die Luft.
Graos Käfig schwebte an der kopfüber hängenden Evaluuna vorbei. Sie war nass von Schweiß, bebte wie Laub im Wind, und ihre weit aufgerissenen Augen waren die einer Wahnsinnigen.
Dem Versuch, sie zu schänden, hatte sie standgehalten, und der blutigen Auspeitschung. Doch würde sie auch diese grausame Peinigung überstehen? Grao’sil’aana war fassungslos – Angst und Schrecken würden sie zerbrechen, fürchtete er. Doch warum taten sie ihr das an?
Immer schneller glitt sein Käfig in die Tiefe. Schon schlug die Bestie nach dem Gitter. Grao hielt sich fest. Hart prallte der Käfigkasten am Boden auf. Die Bestie warf sich dagegen, versuchte die Pranke zwischen die Gitterstäbe zu stecken.
Plötzlich ein Rasseln und Scheppern – die Vorderseite des Käfigs wurde nach oben gezogen. Sie hatten ein zweites Seil dort befestigt und es über eine Seilwinde oben am Kranarm gehängt. An ihm rissen sie den Verschlag nach oben, bis er aus der Fassung rutschte.
Grao’sil’aana begriff, und ihn schwindelte vor so viel Grausamkeit: Die entstellten Jäger hatten Evaluuna nur benutzt, um die Bestie zu reizen und ihre Gier anzustacheln. Das eigentliche Opfer war er selbst.
***
Zwei Tage nach dem Traum, kurz nach Sonnenaufgang, schlug jemand gegen die Klangstäbe vor der Hüttentür. Aruula war längst wach und öffnete. Ein weißhäutiger dürrer Knabe mit schwarzem Haar stand vor der Schwelle und betrachtete sie neugierig. Juefaan, der Sohn der Priesterin.
»Meine Mutter schickt mich«, sagte er scheu und neigte den Kopf wie zu einer Verbeugung. »Mit einer Botschaft für dich.«
»Sprich schon.«
»’Deine Bitte sei erfüllt’, sagt meine Mutter. Und sie erwartet dich spätestens zum nächsten Vollmond zurück.« Er reichte ihr ein altes Stück dünnen Reenaleders. Es war vielfach mit Holzkohle beschrieben und wieder gereinigt worden; nur mit Mühe konnte Aruula die frischen Schriftzeichen entziffern – ihr Sinn entsprach im Wesentlichen der Botschaft, die Juefaan ausgerichtet hatte.
»Warum kommt deine Mutter nicht selbst, um mir das zu sagen?«
»Sie ist schon am frühen Morgen in See gestochen, mit der Karavelle, auf der ihr heimgekehrt seid.«
»Wohin?« Aruula runzelte erstaunt die Brauen.
»Ich weiß es nicht.« Der Junge zog eine besorgte Miene. »Ich hoffe, sie segelt nicht zur Ringfestung, um gegen Lokiraas Krieger zu kämpfen. Dann müsste ich große Angst um sie haben. Sie hat aber versprochen, ebenfalls vor dem nächsten Vollmond zurück zu sein.« Er zuckte mit den Schultern und guckte irgendwie zweifelnd aus seinem grob gewebten Hemd. »Hoffentlich hält sie ihr Versprechen.«
»Keine Sorge.« Sie streichelte ihm den Scheitel. Er war mächtig gewachsen, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Wie alt war er jetzt? Fast zehn, wenn Aruula sich recht erinnerte. »Deine Mutter ist sicher nicht ohne ein Aufgebot von starken Kriegern gereist. Wudan wird sie unverletzt wieder zu dir bringen.«
Juefaan nickte tapfer. »Kommst du?«
»Wohin?« Wieder staunte Aruula.
»Mutter hat ein Ruderboot für dich vorbereitet. Dorthin soll ich dich führen.«
»Du überraschst mich.« Sie sah ihm in die Augen. Seine Miene erinnerte sie in diesem Moment an einen Gesichtsausdruck, den sie schon an Rulfan wahrgenommen hatte. Und tatsächlich hatte er den Mund und bei genauerem Hinsehen auch die Nase des Albinos aus Salisbury. Sogar die Stellung der Augen war ganz ähnlich, allerdings waren sie nicht rot, sondern grün wie die seiner Mutter.
»Warte einen Augenblick.« Aruula kehrte in die Hütte zurück und packte zusammen, worauf sie nicht verzichten
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