303 - Tod einer Königin
wie zugenäht.
»Komm zu mir herüber in die Ruinen von Kalskroona!«, rief Wudans Auge . »Komme zu mir, wenn du erfahren willst, welcher der drei Wege der deine ist.«
Schlagartig erkannte Aruula, was nicht stimmte mit den Flüssen – sie flossen nicht zu einem großen Strom zusammen, sondern ein großer Strom teilte sich hier an der Landzunge in zwei Flüsse.
Im selben Moment, als sie das sah, wachte sie auf. Sie fuhr im Sand hoch. Ihr Herz klopfte, ihr Atem flog, Verwirrung herrschte in ihrem Hirn. Hinter ihr löste sich die Morgensonne vom Horizont.
Sie starrte eine Zeitlang in die Brandung und dachte an den Traum. Traumbild für Traumbild ging sie durch, versuchte zu verstehen, was sie da geträumt hatte. Doch es war, als würde sie vor einer verriegelten Tür stehen, als würde sie eine Botschaft lesen wollen, die in einer fremden Sprache verfasst war.
Irgendwann stand sie auf, legte Schwert, Umhang und Lendenschurz ab und stürzte sich in die kalten Wogen.
Zwei Stunden später traf sie Juneeda vor deren Hütte in der Siedlung. Eine Kinderschar umringte die Priesterin, mittendrin Juefaan, ihr Sohn. »Du hast dich entschieden, Aruula?« Ein Lächeln huschte über Juneedas schmales Gesicht, ein Ausdruck freudiger Erwartung.
»Nein«, sagte Aruula. »Ich hatte eine Vision. Wudans Auge sprach zu mir. Ich muss hinüberrudern nach Kalskroona. Dort werde ich Klarheit über meine Zukunft gewinnen.«
Die edlen Züge der Priesterin verdüsterten sich. Sie schickte die Kinder weg und trat zu Aruula. »Es ist nicht üblich, nach einer Großen Ratsversammlung noch so lange zu warten, bis die berufene Kriegerin zur Königin geweiht wird.« Sie musterte Aruulas Gesicht, als müsse sie erforschen, ob die Schwester die Wahrheit sprach. »Doch wegen deiner Vision will ich dir deine Bitte nicht rundweg abschlagen. Ich muss zuvor allerdings noch mit den Ältesten sprechen.«
***
Diesmal war es ein metallener Geruch, der in seine Dunkelheit drang. Der Geruch von Blut. Die Dunkelheit lichtete sich ein wenig, Grao’sil’aana erinnerte sich an Stiche. Sie hatten ihm Giftpfeile in den Körper gestochen! Wie lange er ohne Besinnung gewesen war, wusste er auch diesmal nicht.
Bitterer, stechender Gestank mischte sich in den Blutgeruch – der Gestank eines Tieres. Das Geräusch von Schlägen wurde ihm bewusst, ein Zischen, ein Pfeifen und Heulen, röhrendes Gebrüll und eine Frauenstimme. »Scheißkerl!«, zischte sie im Rhythmus der pfeifenden Schläge. »Scheißkerl! Scheißkerl! Scheißkerl!«
Grao’sil’aana blinzelte aus dem rechten Auge in schummriges Licht. Mit beiden Händen war eine junge blonde Kriegerin an einen Käfig gebunden, höchstens zwanzig Winter alt.
Er erkannte sie sofort: Evaluuna. Sie stammte von der kleinsten der Dreizehn Inseln und war die Tochter Matoonas, einer der tapfersten Kriegerinnen der Dreizehn Inseln. Warum war sie hier?
Evaluuna war vollkommen nackt. Ein Primärrassenvertreter drosch mit einer Peitsche auf ihren Rücken ein, einer der Jäger. Blut spritzte. Grao’sil’aana wollte ihr helfen, doch sie und ihre Peiniger steckten ja in einem Käfig. Dahinter verlief eine Art Brüstung um eine runde Vertiefung, eisern und brusthoch. Von dort kamen das Gebrüll und der Raubtiergestank.
»Scheißkerl!«, zischte die junge Kriegerin mit von Hass und Schmerz verzerrtem Gesicht. »Mögen dir die Hoden abfaulen, verfluchter Scheißkerl!«
Die Peitsche schon zum nächsten Hieb erhoben, hielt der Schläger plötzlich inne. »Er ist bei Bewusstsein!«, rief er und deutete durch die Gitterstäbe auf Grao’sil’aana alias Hermon. Und erst jetzt, in diesem Augenblick, begriff der Daa’mure in Menschengestalt, dass nicht Evaluuna und ihr Peiniger in einem Käfig steckten, sondern er. Sie hatten die Kriegerin an sein Gefängnis gebunden, um sie zu auszupeitschen.
»Der Dämon ist zu sich gekommen!«, schrie der Peitschenmann, und von allen Seiten näherten sich nun männliche Primärrassenvertreter Graos Käfig. Auch den, der ein Geschwür statt einer Nase im Gesicht trug, erkannte er unter ihnen. An der Spitze seiner Jäger eilte er entlang der eisernen Brüstung herbei.
»Was tust du hier, Evaluuna?« Grao’sil’aana blinzelte ins Halbdunkel und richtete sich auf den Knien auf. Noch immer wusste er nicht, wo genau er war, noch immer konnte er sich Evaluunas Anwesenheit nicht erklären.
»Haben nach euch gesucht.« Die junge Frau atmete schwer. »Sind in einen Hinterhalt geraten. Die
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