306 - Ein Hort des Wissens
war er gewesen, ja, doch war er auch ein guter Schwimmer gewesen? Die Angst um Jenny mochte ihn ins Meer getrieben, die Liebe zu ihr. Doch das reichte nicht aus, um sich in dieser wogenden Wellenwüste über Wasser zu halten.
Rulfan riss mit aller Kraft am Ruderblatt, um den Schmerz hinterm Brustbein zu betäuben. In immer größeren Kreisen umrundeten vier Ruderboote die Fregatte. Bis zum späten Nachtmittag. Und danach in wieder kleiner werdenden Kreisen, bis sie in der Dämmerung zurück beim Mutterschiff anlangten. Sie konnten nur den ausgeworfenen Rettungsring mit an Bord nehmen.
Am zweiten Tag ließ Rulfan die Rettungsboote erneut zu Wasser. Er wollte es einfach nicht glauben. Niemand an Bord wollte es glauben. Jenny und Pieroo ertrunken? Beide? Das konnte doch nicht wahr sein.
Sämtliche Männer an Bord meldeten freiwillig, um in die Boote zu steigen und bei der Suche der Vermissten zu helfen.
Auch am dritten Tag kreisten die Boote wieder um die Eibrex IV. Wieder vergeblich. Rulfans Verstand hatte nichts anderes erwartet. Sein Herz aber wollte nicht aufgeben.
Am Morgen des fünften Tages, nachdem Jenny und Pieroo über Bord gegangen waren, ließ Rulfan kein Boot mehr zu Wasser. Am sechsten Tag versammelte er die Besatzung am Bug des Schiffes zu einer Trauerfeier. Er selbst stand an der Stelle vor der Reling, an der es geschehen war. An der er Jenny zuletzt gesehen, an der sie über die Reling geklettert war, an der er Pieroo nicht davon hatte abhalten können, dasselbe zu tun.
Rulfans Lippe war noch geschwollen. Er machte sich Vorwürfe, weil er nicht energischer zurückgeschlagen hatte. Hätte er sich doch an Pieroo fest geklammert! Hätte er Pieroo doch bewusstlos geschlagen! Nie würde er diese letzte Berührung des Barbaren vergessen.
Rulfan schüttelte die beklemmenden Bilder ab und begann zu erzählen, was er wusste über Jenny Jensen und Pieroo.
Über Jenny erzählte er zum Beispiel, dass sie vor Kristofluu in einem Land namens Kanada gelebt hatte, dass sie neben Maddrax in einem kleinen Schwarm von Feuervögeln mitgeflogen war, bevor der Komet einschlug, und dass ihre Freunde sie manchmal Canucklehead genannt hatten.
»Sie war eine Frau aus der Vergangenheit«, sagte er. »Nun gibt es nur noch einen Menschen, den das Schicksal aus jener Zeit vor Kristofluu über fünfhundertsechs Jahre in unsere Zeit hinein verschlagen hat: Maddrax.«
Über Pieroo erzählte er, dass er vor vielen Wintern in einer Ruinenstadt namens Leipzig an Maddrax’ Seite gegen die Nordmänner gekämpft hatte, dass er stark und klug gewesen war und dass er Jenny und Ann auch in den schwersten Zeiten nicht von der Seite gewichen war.
»Ein treuer Freund und Verbündeter war Pieroo gewesen«, sagte Rulfan. »Wer auf ihn baute, wurde ganz bestimmt nicht enttäuscht.«
Er schloss seine kleine Ansprache mit den Worten eines Liedes, das Aruula ihm einmal beigebracht hatte. Er sprach diese Worte, denn singen konnte er das Lied nicht, sonst wäre er ganz gewiss in Tränen ausgebrochen. Der Liedtext ging so:
Wudan, der Allmächtige, hat alles wohl bedacht,
drum lass dich nicht verführen,
den Tod als Zuflucht zu verstehen.
Denn wie du gegen deinen Willen
im Mutterleib entstanden bist,
so wardst du gegen deinen Willen auch geboren,
lebst gegen deinen Willen,
stirbst gegen deinen Willen
und wirst einst gegen deinen Willen
in Wudans Festsaal an die Heldentafel treten,
um für deine Taten Rechenschaft zu geben
und um danach mit Wudans Götterhelden
zu speisen und den Kelch zu heben.
Wudan, der Allmächtige, hat alles wohl bedacht.
Danach schwiegen alle ein paar Minuten lang, die meisten mit gesenkten Köpfen. Rulfan blickte auf das Meer hinaus, auf das wogende Grab zweier Menschen, die er seit Jahren gekannt hatte. Was würde Maddrax sagen, wenn er von dieser traurigen Stunde wüsste?
Die Wellen rauschten und klatschten gegen die Bordwand. Möwen schrien, der Wind brauste und peitschte ihm sein hellgraues Langhaar um Wangen und Stirn. Hinter ihm, in der Menge der Trauernden, murmelte irgendjemand ein Gebet. Auch schluchzen hörte Rulfan jemanden.
Irgendwann drehte er sich um. »Unser Leben geht weiter. Möge jeder von uns es so führen, als würde er der nächste sein, der vor Wudan zu erscheinen hat.« Rulfan ließ seinen Blick über die Gesichter schweifen. »Und jetzt lichten wir die Anker.«
Eine halbe Stunde danach nahm die Eibrex IV wieder Fahrt auf. Da war die erste Augustwoche schon fast
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