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306 - Ein Hort des Wissens

306 - Ein Hort des Wissens

Titel: 306 - Ein Hort des Wissens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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einigen Fenstern flammten Fackeln oder Öllampen auf, Lärm von Schritten und Stimmen drang aus dem Burghof. Auch Frauenstimmen glaubte Varmer herauszuhören.
    Er wies über die Rodung zum Burggraben. Der erste seiner Männer huschte hinüber, rollte sich die Böschung hinab in den Nebel. Die anderen folgten in kurzen Abständen, Varmer als letzter. Als er sich in den Nebel über dem Graben hineinrollte, hörte er das Krachen, mit dem die Zugbrücke auf dem Fahrweg aufsetzte. Und dann wieder der Lärm von Hufschlag und Wagenrädern, hohler diesmal.
    An der Stelle, die Hoss ausgekundschaftet hatte, wateten Varmer und seine Exekutoren durch den Graben. Die Gewehre stemmten sie über den Kopf. Als sie am anderen Ufer aus dem Nebel stiegen, fielen bei der Zugbrücke die ersten Schüsse. Männer schrien, Frauen kreischten. Sämtliche Augen- und Ohrenpaare in der Burg würden sich in diesen Sekunden auf die Zugbrücke und das Burgtor konzentrieren.
    Drei Schritte nur waren es von der Böschung bis zur Hauswand. Varmer sprang hin, packte das lose Gitter und riss es mit einer einzigen kraftvollen Bewegung aus der Mauer. Mit dem Gewehrkolben schlug er das Glas samt dem Fensterrahmen aus der Mauerfassung. Der erste seine Männer kletterte hinein.
    ***
    Jenny schluckte Salzwasser, hustete, versank in einer Wellenfurche, wurde von der nächsten Woge wieder nach oben gespült. Als gebe es so etwas wie einen Schwimmreflex, bewegte sie die Arme zu immer neuen Schwimmzügen. Sich einfach sinken zu lassen, war schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte.
    Sie sah Anns geliebtes Gesichtchen vor sich, sie beschwor das Bild des kleinen von Aruulas Schwert durchbohrten Körper herauf, die blicklosen Augen, den Steinhügel schließlich, den Matt über ihrer Leiche aufgeschichtet hatte. Und endlich wollte es ihr gelingen: Sie stellte die Schwimmbewegungen ein und sank.
    So war es gut. Sinken, Wasser schlucken, sterben. So war es gut. Ich komme zu dir, meine geliebte Ann.
    Plötzliche Strömung wirbelte sie um ihre Längsachse, eine kraftvolle Welle packte sie und riss sie wieder nach oben. Sie hustete, erbrach Wasser, schnappte gegen ihren Willen nach Luft. Ihre Tränen vermischten sich mit Wasser. Um sie herum drehte sich die Welt: Der Himmel, die Wellen, das Schiff.
    Schon gut hundert Meter entfernt pflügte es durch die Wogen. Täuschte sie sich, oder drehte es bei? Täuschte sie sich, oder stieg dort einer über die Reling? Tatsächlich! Eine bärtige Gestalt! Andere versuchten, sie zurückzuhalten. Doch der Bärtige schlug nach ihnen, richtete sich auf der Reling auf – und sprang.
    Pieroo!
    »Nicht doch, Pieroo...!« Sie riss den Mund auf, verschluckte Wasser. Lass mich doch, Pieroo... Sie tauchte unter, versank atmete Wasser ein.
    Und jetzt sank Jenny einer Dunkelheit entgegen, die ihr Angst machte. Panik durchglühte ihre Glieder, sie zuckte und strampelte. Doch ihre Bewegungen erlahmten rasch. Ihre Lungen füllten sich mit immer mehr Wasser. Sie hörte auf zu strampeln und zu zucken. Ganz still wurde sie, ganz schwer.
    Sie sank dem Meeresgrund entgegen.
    ***
    Das Kind schrie, Myrial fuhr aus dem Schlaf hoch. Der Gewohnheit folgend nahm sie den Schreihals in den Arm, entblößte ihre Brust und legte ihn an. Das Geschrei verstummte, der Kleine saugte gierig.
    Stocksteif saß Myrial im Bett und lauschte ungläubig: Schüsse zerrissen die morgendliche Stille.
    Schüsse unten im Burghof? Konnte das wahr sein?
    Das saugenden Jungen an die Brust gedrückt schob sie sich von der Matratze und lief zum Turmfenster.
    Auf der hinuntergelassenen Zugbrücke stand ein Horsaywagen. Auf dem Wagen lagen zwei Tote. Neben dem Wagen, im Tor und im Burghof lagen ebenfalls Tote – Angehörige der Burggarnison, mindestens neun.
    Sechs Fremde zielten aus lärmenden Waffen auf den Wehrgang, zu den Türmen und Fenstern hinauf. Vier trugen schwarze, schmierige Kutten, zwei braune Mäntel, wie man sie hin und wieder hier in der Gegend sah. Die Gesichter und Hände derer in Schwarz waren von Blut verschmiert.
    Bei jedem Krachen eines Schusses sah Myrial eine Feuerzunge aus dem Rohr der betreffenden Waffe aufblitzen. Sie erinnerte sich, dass Rulfan von solchen Waffen gesprochen und sie »Gewehre« genannt hatte. Besaß er nicht selbst so ein böses Ding?
    Der Gedanke an ihren Gatten erbitterte sie. »Orguudoo soll dich holen«, murmelte sie. »Warum habe ich keinen Mann hier in der Burg, der mich und mein Kind beschützt?«
    Draußen vor dem Burggraben

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