306 - Ein Hort des Wissens
abgedeckte Gestell hinter dem Mast hielt Rulfan für eine Harpune. »Ein derart kleines Schiff für den Walfang? Ziemlich mutige Männer.«
Das Schiff kam rasch näher. Der bärtige Hüne am Bug winkte. Männer und Frauen versammelten sich nach und nach an der Bugreling der EIBREX IV und winkten zurück. Mittlerweile hatte es sich auf der Fregatte herumgesprochen, dass ein anderes Schiff gesichtet worden war. Der erste Kontakt mit Fremden nach so vielen Wochen machte die Besatzung neugierig und versetzte etliche in freudige Erregung.
»Er will etwas von uns«, sagte Rulfan und gab seinem Vater den Feldstecher. »Sein Kurs führt direkt an unsere Steuerbordseite.«
»Vielleicht haben sie Probleme«, mutmaßte Gonzales.
»Oder sie halten uns für Exekutoren aus Glesgo«, sagte Sir Leonard. »Denen gehörte diese Fregatte nämlich einmal.«
»Ich schau mir die Leute genauer an«, sagte Rulfan und verließ das Ruderhaus.
»Meine erste Begegnung mit Eingeborenen der neuen Heimat.« Meinhart Steintrieb begleitete den Albino nach unten. »Wahnsinn! Bin echt gespannt.«
Steuerbords, in der Nähe des Bugs, lehnte Rulfan sich kurz darauf über die Reling. Meinhart, neben ihm, wirkte mal wieder mächtig aufgekratzt. »Ziemlich fett der Bursche, was?«, sagte er. Rulfan antwortete lieber nicht. Nach seinem Eindruck konnte Steintriebs Leibesfülle es jederzeit mit der des bärtigen Fischers aufnehmen. Dabei kam ihm der Fischer auf die Entfernung – hundert Meter trennten die beiden ungleichen Schiffe noch – um mindestens einen Kopf größer vor als der Technikfreak.
»Wem gehört das Schiff?«, fragte der Fischer, als sein Boot bis auf Rufweite heran war. Eine Frage, die Rulfan zunächst ein wenig ratlos machte. »Ich habe euch was gefragt!« Der Bursche wandte sich offensichtlich nicht an Rulfan, den er wohl noch gar nicht wahrgenommen hatte – sondern an die Leute aus Guernsey und Corkaich. Die drängten sich neugierig am Bug zusammen und waren dem Fischerboot dreißig Meter näher als Rulfan und Meinhart. Keiner von ihnen antwortete dem Fremden.
»Ich sage euch, wem das verdammte Schiff gehört!«, rief der Mann. »Es gehört uns!«
»Hey, Rulfan.« Meinhart stieß Rulfan den Ellenbogen in die Rippen. »Sind die alle so charmant hier?«
Rulfan begriff zunächst gar nicht, was der Fischer wollte. Wirklich ernst nahm er den bärtigen Hünen erst, als auf seinen Wink hin zwei seiner Leute die Plane von der vermeintlichen Harpune zogen. Da kam nämlich etwas zum Vorschein, was gewaltig nach einer Kanone aussah. Und als dann auf einmal eine Luke in den Deckplanken des Fischerbootes sich öffnete, und ein Mann nach dem anderen sich herausstemmte, war Rulfan endgültig klar, dass Gefahr drohte.
Wie zur Bestätigung hielten die vermeintlichen Fischer plötzlich Gewehre in den Händen und zielten hinauf zur Reling der Eibrex IV. Gewehre, die erschreckend wenig altmodisch aussahen.
Im nächsten Moment bellten Schusssalven zum Außendeck der Fregatte herauf. Rulfan packte Meinhart am Ärmel seines Kettenhemdes und riss ihn mit sich auf die Planken. Das letzte, was er sah, war ein Blick des bärtigen Hünen; ein Blick, den er sich nicht erklären konnte: Fast erschrocken sah der Anführer der Bande ihn an, gerade so, als wäre ihm mit Rulfan zufällig und ungeplant ein alter Erzfeind über den Weg gelaufen.
Diesen Eindruck machte Rulfan sich allerdings erst später klar, als alles vorbei war. Im Augenblick, als die Gewehrschüsse krachten und am Bug Männer und Frauen getroffen und schreiend zu Boden gingen, füllte nur ein einziger Gedanke sein Hirn aus: kämpfe, verteidige das Schiff mit allem, was du hast.
Merkwürdigerweise reagierte der fettleibige Meinhart schneller als er. Der Retrologe robbte schon über die Planken Richtung Luke, als Rulfan sich erst auf den Knien aufrichtete. »Überfall!«, brüllte Rulfan. »Zu den Waffen!«
Im selben Moment, als er das rief, begriff er, wie wenig er und die anderen auf einen solchen Überfall vorbereitet waren. Der eine oder andere auf dem Außendeck mochte ein Schwert, eine Axt, vielleicht sogar eine Armbrust oder ähnliches bei sich tragen, die Waffen aber, die jetzt nötig waren, lagen unter Deck in einem der Lagerräume.
Plötzlich ein Heulen in der Luft, ein Röhren und Krachen, dann ein Lichtblitz und Detonationslärm. Die Angreifer setzten ihr Geschütz ein! »Orguudoo soll sie holen!«, brüllte Rulfan. Hinter dem Ruderhaus, stieg eine Fontäne aus Trümmern und
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