Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
Vom Netzwerk:
des 23. August 2006 gingen wir in den Garten. Die Nachbarn waren nicht da, und ich pflückte die letzten Erdbeeren im Beet vor der Ligusterhecke und sammelte die letzten Marillen auf, die um den Baum lagen. Anschließend putzte ich die Früchte in der Küche und stellte sie in den Kühlschrank. Der Täter begleitete mich auf Schritt und Tritt und ließ mich keinen Augenblick aus den Augen.
    Gegen Mittag brachte er mich zum Gartenhäuschen im linken hinteren Bereich des Grundstücks, das durch einen Zaun von einem kleinen Weg abgetrennt war. Priklopil achtete penibel darauf, dass das Gartentor immer verschlossen war. Auch wenn er nur für einen kurzen Moment das Grundstück verließ, um draußen etwa die Fußmatten seines roten BMW auszuklopfen, schloss er ab. Zwischen dem Häuschen und dem Gartentor parkte der weiße Lieferwagen, der in den nächsten Tagen abgeholt werden sollte. Priklopil holte den Staubsauger, schloss ihn an und befahl mir, den Innenraum, die Sitzflächen und die Bodenmatten sorgfältig zu saugen. Ich war gerade mitten in der Arbeit, als sein Handy klingelte. Er machte einige Schritte vom Auto weg, schirmte sein Ohr mit der Hand ab und fragte zwei Mal: »Wie bitte?« Aus den kurzen Satzfetzen, die ich durch den Lärm des Staubsaugers hörte, schloss ich, dass ein Interessent für die Wohnung in der Leitung sein musste. Priklopil wirkte hocherfreut. Ins Gespräch vertieft, drehte er sich um und entfernte sich einige Meter Richtung Pool.
    Ich war allein. Zum ersten Mal seit Beginn meiner Gefangenschaft hatte mich der Täter aus den Augen gelassen. Einen kurzen Moment lang stand ich erstarrt vor dem Auto, den Staubsauger in der Hand, und merkte, wie ein Gefühl der Lähmung meine Beine und Arme erfasste. Mein Brustkorb war wie von einem Eisenkorsett umschlossen. Ich konnte kaum atmen. Langsam sank meine Hand mit dem Staubsauger nach unten. Ungeordnete, wirre Bilder rasten durch meinen Kopf: Priklopil, wie er zurückkehrte und mich nicht vorfand. Wie er mich suchen und Amok laufen würde. Ein Zug, der heranschoss. Mein lebloser Körper. Sein lebloser Körper. Polizeiautos. Meine Mutter. Das Lächeln meiner Mutter.
    Dann ging alles sehr schnell. In einem übermenschlichen Gewaltakt riss ich mich aus dem lähmenden Treibsand, der meine Beine immer fester umschloss. Die Stimme meines zweiten Ich hämmerte in meinem Kopf: Wenn du erst gestern entführt worden wärst, würdest du jetzt rennen. Du musst dich jetzt so benehmen, als würdest du den Täter nicht kennen. Er ist ein Fremder. Lauf. Lauf. Verdammt noch mal, lauf!
    Ich ließ den Staubsauger fallen und stürzte zum Gartentor. Es war offen.
     
    * *  *
     
    Ich zögerte einen Moment. Sollte ich nach links oder nach rechts? Wo waren Menschen? Wo war die Bahnlinie? Ich durfte jetzt nicht den Kopf verlieren, keine Angst haben, nicht umdrehen, einfach nur weg. Ich hastete den kleinen Weg entlang, bog in die Blaselgasse ein und lief auf die Siedlung zu, die sich durch die Parallelstraße zog - Schrebergärten, dazwischen kleine Häuschen, die auf den einstigen Parzellen errichtet worden waren. In meinen Ohren war ein einziges Rauschen, meine Lungen taten weh. Und ich war sicher, dass der Täter mit jeder Sekunde näher kam. Ich glaubte, seine Schritte zu hören, und fühlte seinen Blick auf meinem Rücken. Kurz bildete ich mir ein, seinen Atem in meinem Genick zu spüren. Aber ich drehte mich nicht um. Ich würde es früh genug merken, wenn er mich von hinten zu Boden riss, zurück zum Haus zerrte und umbrachte. Alles besser als zurück ins Verlies. Den Tod hatte ich ohnehin gewählt. Entweder durch den Zug oder durch ihn. Die Freiheit zu wählen, die Freiheit zu sterben. Es war wirres Zeug, das mir durch den Kopf schoss, während ich immer weiter hetzte. Erst als mir auf der Straße drei Menschen entgegenkamen, wusste ich, dass ich leben wollte. Und dass ich auch leben würde.
    Ich stürzte auf sie zu und sprach sie japsend an: »Sie müssen mir helfen! Ich brauche ein Handy, um die Polizei zu rufen! Bitte!« Die drei starrten mich erstaunt an; ein alter Mann, ein Kind, vielleicht zwölf Jahre alt, und ein Dritter, vielleicht der Vater des Jungen. »Das geht nicht«, sagte er. Dann schlugen die drei einen Bogen um mich herum und gingen weiter. Der Altere drehte sich noch einmal um: »Tut mir leid, ich habe mein Handy nicht dabei.« Tränen schossen mir in die Augen. Was war ich denn für die Welt da draußen noch? Ich hatte in ihr kein Leben, ich war

Weitere Kostenlose Bücher