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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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hänselten mich noch mehr und die Einsamkeit kompensierte ich mit noch mehr Essen. An meinem zehnten Geburtstag wog ich 45 Kilo.
    Meine Mutter tat ein Übriges, mich weiter zu frustrieren. »Ich mag dich trotzdem, egal wie du aussiehst.« Oder: »Man muss ein hässliches Kind nur in ein schönes Kleid stecken.« Wenn ich verletzt reagierte, lachte sie und meinte: »Bezieh das doch nicht auf dich, Schatz. Sei nicht so sensibel.« Sensibel - das war das Schlimmste, das durfte man nicht sein. Ich bin heute immer wieder erstaunt, wie positiv das Wort »sensibel« verwendet wird. In meiner Kindheit war es ein Schimpfwort für Menschen, die zu weich sind für diese Welt. Ich hätte mir damals gewünscht, weicher sein zu dürfen. Später hat mir die Härte, die mir vor allem meine Mutter auferlegte, wahrscheinlich das Leben gerettet.
     
    * *  *
     
    Umgeben von jeder Menge Süßigkeiten verbrachte ich Stunden allein vor dem Fernseher oder in meinem Zimmer mit einem Buch in der Hand. Ich wollte vor dieser Realität, die nichts als Demütigungen für mich bereithielt, in andere Welten fliehen. Wir hatten zu Hause alle Fernsehprogramme, und niemand achtete wirklich darauf, was ich mir ansah. Ich schaltete wahllos durch die Kanäle, sah Kindersendungen, Nachrichten und Krimis, die mir Angst machten, deren Inhalte ich aber trotzdem aufsaugte wie ein Schwamm. Im Sommer 1997 bestimmte ein Thema die Medien: Im Salzkammergut flog ein Kinderpornoring auf. Mit Erschrecken hörte ich im Fernsehen, dass sieben erwachsene Männer eine unbestimmte Anzahl von Buben mit kleinen Geldgeschenken in ein eigens eingerichtetes Zimmer in einem Haus gelockt hatten, um sie dort zu missbrauchen und Videos davon zu drehen, die sie weltweit verkauften. Am 24. Januar 1998 erschütterte ein weiterer Fall Oberösterreich. Über ein Postfach waren Videos verteilt worden, auf denen der Missbrauch von fünf- bis siebenjährigen Mädchen zu sehen war. Ein Video zeigte einen der Täter, wie er ein siebenjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft in ein Mansardenzimmer gelockt und dort schwer missbraucht hatte.
    Noch mehr nahmen mich Berichte über die Morde an Mädchen mit, die damals in Serie in Deutschland stattfanden. Meiner Erinnerung nach gab es während meiner Volksschulzeit kaum einen Monat, in dem nicht über entführte, vergewaltigte oder ermordete Mädchen berichtet wurde. Die Nachrichten sparten kaum ein Detail der dramatischen Suchaktionen und polizeilichen Ermittlungen aus. Ich sah Suchhunde in Wäldern und Taucher, die in Seen und Teichen nach den Leichen verschwundener Mädchen suchten. Und ich lauschte immer wieder den erschütternden Erzählungen der Angehörigen: wie die Mädchen beim Spielen im Freien verschwanden oder nicht mehr von der Schule nach Hause kamen. Wie die Eltern verzweifelt nach ihnen gesucht hatten, bis sie die schreckliche Gewissheit ereilte, dass sie ihre Kinder nicht mehr lebend sehen würden.
    Die Fälle, die damals durch die Medien gingen, hatten eine so große Präsenz, dass wir auch in der Schule darüber sprachen. Die Lehrer erklärten uns, wie wir uns vor Übergriffen schützen konnten. Wir sahen Filme, in denen Mädchen von ihrem älteren Bruder belästigt wurden oder Buben lernten, zu ihrem übergriffigen Vater »Nein!« zu sagen. Und die Lehrer wiederholten die Mahnungen, die uns Kindern auch zu Hause immer wieder eingetrichtert wurden: »Geht niemals mit einem Fremden mit! Steigt nicht in ein unbekanntes Auto.
    Nehmt keine Süßigkeiten an! Und wechselt lieber die Straßenseite, wenn euch etwas komisch vorkommt.«
     
    Wenn ich die Liste der Fälle, die in meine Volksschulzeit fallen, heute anschaue, bin ich noch so erschüttert wie damals:
     
    Yvonne (12 Jahre alt) wurde im Juli 1995 am Pinnower See (Brandenburg) erschlagen, weil sie sich einer Vergewaltigung durch einen Mann widersetzte.
    Annette (15 Jahre alt) aus Mardorf am Steinhuder Meer wurde 1995 unbekleidet, sexuell missbraucht und ermordet in einem Maisfeld gefunden. Der Mörder wurde nicht gefasst.
    Maria (7 Jahre alt) wurde im November 1995 in Haldensleben (Sachsen-Anhalt) entführt, missbraucht und in einen Teich geworfen.
    Elmedina (6 Jahre alt) wurde im Februar 1996 in Siegen entführt, missbraucht und erstickt.
    Claudia (n Jahre alt) wurde im Mai 1996 in Grevenbroich entführt, missbraucht und verbrannt.
    Ulrike (13 Jahre alt) kehrte am 11. Juni 1996 von einer Ausfahrt mit ihrer Ponykutsche nicht zurück. Ihre Leiche wurde zwei Jahre später

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