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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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entlang in Richtung meiner Volksschule am Brioschiweg. Der Weg führte durch ein paar ruhige Nebenstraßen, gesäumt von kleinen Einfamilienhäusern aus den 1950er Jahren mit bescheidenen Vorgärten. In einer Gegend, die geprägt war von Industriebauten und Plattenbausiedlungen, wirkten sie anachronistisch und beruhigend zugleich. Als ich in die Melangasse einbog, wischte ich mir die letzten Tränen vom Gesicht, dann trottete ich mit gesenktem Kopf weiter.
    Ich weiß nicht mehr, was mich veranlasste, den Kopf zu heben. Ein Geräusch? Ein Vogel? Jedenfalls fiel mein Blick auf einen weißen Lieferwagen. Er stand in der Parkspur auf der rechten Straßenseite und wirkte in dieser ruhigen Umgebung seltsam fehl am Platz. Vor dem Lieferwagen sah ich einen Mann stehen. Er war schlank, nicht sehr groß und blickte irgendwie ziellos umher: als würde er auf etwas warten und wüsste nicht, worauf.
    Ich verlangsamte meine Schritte und wurde steif. Meine Angst, die ich so wenig greifen konnte, war mit einem Schlag zurück und überzog meine Arme mit einer Gänsehaut. Sofort hatte ich den Impuls, die Straßenseite zu wechseln. Eine schnelle Abfolge von Bildern und Wortfetzen raste durch meinen Kopf: Sprich nicht mit fremden Männern ... Steig nicht in ein fremdes Auto ... Entführungen, Missbrauch, die vielen Geschichten, die ich über gekidnappte Mädchen im Fernsehen gesehen hatte. Aber wenn ich wirklich erwachsen werden wollte, durfte ich diesem Impuls nicht nachgeben. Ich musste mich stellen und zwang mich weiterzugehen. Was soll schon passieren? Der Schulweg war meine Prüfung. Ich würde sie bestehen, ohne auszuweichen.
    Rückblickend kann ich nicht mehr sagen, warum beim Anblick des Lieferwagens in mir sofort die Alarmglocken schrillten: Es mag Intuition gewesen sein, vielleicht aber auch einfach die Überflutung mit all den Meldungen über sexuellen Missbrauch, denen wir damals in Folge des »Falles Groer« ausgesetzt waren. Der Kardinal wurde 1995 bezichtigt, Jugendliche missbraucht zu haben, die Reaktion des Vatikans sorgte für einen regelrechten Medienrummel und führte zu einem Kirchenvolksbegehren in Österreich. Dazu kamen all die Berichte über entführte und ermordete Mädchen, die ich aus den deutschen Fernsehnachrichten kannte. Aber wahrscheinlich hätte mir wohl jeder Mann, dem ich in einer ungewöhnlichen Situation auf der Straße begegnet wäre, Angst eingejagt. Entführt zu werden war in meinen kindlichen Augen eine realistische Möglichkeit - aber im tiefsten Inneren doch etwas, das im Fernsehen stattfand. Und nicht in meiner Nachbarschaft.
    Als ich mich dem Mann bis auf etwa zwei Meter genähert hatte, sah er mir in die Augen. In diesem Moment schwand meine Angst. Er hatte blaue Augen und wirkte mit seinen etwas zu langen Haaren wie ein Student in einem alten Fernsehfilm aus den 1970er Jahren. Sein Blick ging auf seltsame Weise ins Leere. Das ist ein armer Mann, dachte ich, denn er strahlte so etwas Schutzbedürftiges aus, dass ich den spontanen Wunsch hatte, ihm zu helfen. Das mag seltsam klingen, wie ein unbedingtes Festhalten am kindlichen Glauben an das Gute im Menschen. Aber als er mich an diesem Morgen zum ersten Mal frontal ansah, wirkte er verloren und sehr zerbrechlich.
    Ja. Diese Prüfung würde ich bestehen. Ich würde in dem Abstand, den der schmale Gehsteig zuließ, an diesem Mann vorbeigehen. Ich traf nicht gerne mit anderen Menschen zusammen und wollte ihm wenigstens so weit ausweichen, dass ich nicht mit ihm in Berührung kam.
    Dann ging alles sehr schnell.
    In dem Moment, als ich mit gesenktem Blick den Mann passieren wollte, packte er mich um die Taille und hob mich durch die offene Türe in den Lieferwagen. Alles geschah mit einer einzigen Bewegung, als wäre die Szene choreographiert worden, als hätten wir sie gemeinsam einstudiert. Eine Choreographie des Schreckens.
    Habe ich geschrien? Ich glaube nicht. Und doch war alles in mir ein einziger Schrei. Er drängte nach oben und blieb weit unten in meiner Kehle stecken: ein stummer Schrei, als wäre einer dieser Alpträume wahr geworden, in denen man schreien will, aber es ist kein Ton zu hören; in denen man rennen will, aber die Beine bewegen sich wie in Treibsand.
    Habe ich mich gewehrt? Habe ich versucht, seine perfekte Inszenierung zu stören? Ich muss mich gewehrt haben, denn am nächsten Tag hatte ich ein blaues Auge. An den Schmerz durch einen Schlag kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern, nur an das Gefühl lähmender

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