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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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ganze Weile schon hatte ich mit ihr darüber verhandelt, dass es nun an der Zeit sei, den Schulweg allein zu bewältigen. Ich wollte damit nicht nur den Eltern, sondern vor allem mir zeigen, dass ich kein kleines Kind mehr war. Und dass ich meine Angst besiegen konnte.
    Meine Unsicherheit war etwas, das mich zutiefst quälte. Sie überfiel mich schon auf dem Weg durch das Stiegenhaus, setzte sich im Hof fort und wurde zum bestimmenden Gefühl, wenn ich durch die Straßen der Rennbahnsiedlung lief. Ich fühlte mich schutzlos und winzig und hasste mich dafür. An diesem Tag, das nahm ich mir fest vor, wollte ich versuchen, stark zu sein. Dieser Tag sollte der erste meines neuen Lebens und der letzte meines alten werden. Im Nachhinein mutet es beinahe zynisch an, dass genau an diesem Tag mein Leben, wie ich es kannte, tatsächlich endete. Allerdings auf eine Weise, für die mir jegliche Vorstellungskraft fehlte.
    Entschlossen schob ich die gemusterte Bettdecke zur Seite und stand auf. Wie immer hatte mir meine Mutter die Sachen bereitgelegt, die ich anziehen sollte. Ein Kleid mit einem Oberteil aus Jeansstoffund einem Rock aus kariertem, grauem Flanell. Ich fühlte mich unförmig darin, eingezwängt, als hielte mich das Kleid fest in einem Stadium, dem ich doch längst entwachsen wollte.
    Missmutig schlüpfte ich hinein, dann ging ich über den Flur in die Küche. Auf dem Tisch hatte meine Mutter die Pausenbrote für mich zurechtgelegt, eingewickelt in Papierservietten, die das Logo des kleinen Lokals in der Marco-Polo-Siedlung und ihren Namen trugen. Als es Zeit war zu gehen, schlüpfte ich in meinen roten Anorak und schulterte meinen bunten Rucksack. Ich streichelte die Katzen und verabschiedete mich von ihnen. Dann öffnete ich die Tür zum Stiegenhaus und ging hinaus. Auf dem letzten Absatz blieb ich stehen und zögerte, jenen Satz im Kopf, den meine Mutter mir Dutzende Male gesagt hatte: »Man darf nie im Ärger auseinandergehen. Man weiß ja nicht, ob man sich wiedersehen wird!« Sie konnte wütend werden, sie war impulsiv, und oft rutschte ihr die Hand aus. Aber wenn es daran ging, sich zu verabschieden, war sie immer sehr liebevoll. Sollte ich wirklich ohne ein Wort gehen? Ich drehte mich um, aber dann siegte doch das Gefühl der Enttäuschung, das der Vorabend in mir hinterlassen hatte. Ich würde ihr keinen Kuss mehr geben und sie mit meinem Schweigen strafen. Außerdem, was sollte schon passieren?
    »Was soll schon passieren?«, murmelte ich halblaut vor mich hin. Die Worte hallten im Treppenhaus mit den grauen Fliesen. Ich wandte mich wieder um und ging die Stufen hinunter. Was soll schon passieren? Der Satz wurde mein Mantra für den Weg hinaus auf die Straße und durch die Häuserblocks zur Schule. Mein Mantra, gerichtet gegen die Angst und gegen das schlechte Gewissen, mich nicht verabschiedet zu haben.
    Ich verließ den Gemeindebau, lief an seiner endlosen Mauer endang und wartete am Zebrastreifen. Die Straßenbahn ratterte an mir vorüber, vollgestopft mit Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Mein Mut sank. Alles um mich herum schien plötzlich viel zu groß für mich. Der Streit mit meiner Mutter ging mir nach, und das Gefühl, in diesem Beziehungsgeflecht zwischen meinen streitenden Eltern und deren neuen Partnern, die mich nicht akzeptierten, unterzugehen, machte mir Angst. Die Aufbruchstimmung, die ich an diesem Tag hatte verspüren wollen, wich der Gewissheit, dass ich einmal mehr um einen Platz in diesem Geflecht würde kämpfen müssen. Und dass ich es nicht schaffen würde, mein Leben zu ändern, wenn mir schon der Zebrastreifen wie ein unüberwindbares Hindernis vorkam.
    Ich begann zu weinen und spürte, wie der Drang übermächtig wurde, einfach zu verschwinden und mich in Luft aufzulösen. Ich ließ den Verkehr an mir vorbeifließen und stellte mir vor, wie ich auf die Straße treten und mich ein Auto erfassen würde. Es würde mich ein paar Meter mitschleifen, und dann wäre ich tot. Mein Rucksack würde neben mir liegen, und meine rote Jacke wäre wie eine Signalfarbe auf dem Asphalt, die schrie: Seht nur, was ihr mit diesem Mädchen gemacht habt. Meine Mutter würde aus dem Haus stürzen, um mich weinen und alle ihre Fehler einsehen. Ja, das würde sie. Ganz sicher.
    Natürlich sprang ich nicht vor ein Auto und auch nicht vor die Straßenbahn. Ich hätte niemals so viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollen. Stattdessen gab ich mir einen Ruck, überquerte die Straße und ging den Rennbahnweg

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