3096 Tage
gefunden.
Ramona (10 Jahre alt) verschwand am 15. August 1996 in Jena spurlos aus einem Einkaufszentrum. Ihre Leiche wurde im Januar 1997 bei Eisenach gefunden.
Natalie (7 Jahre alt) wurde am 20. September 1996 in Epfach in Oberbayern von einem 29-jährigen Mann auf dem Weg zur Schule entführt, missbraucht und ermordet.
Kim (10 Jahre alt) aus Varel in Friesland wurde im Januar 1997 entführt, missbraucht und ermordet.
Anne-Katrin (8 Jahre alt) wurde am 9. Juni 1997 in der Nähe ihres Elternhauses in Seebeck in Brandenburg erschlagen aufgefunden.
Loren (9 Jahre alt) wurde im Juli 1997 im Keller des Elternhauses in Prenzlau von einem 20-jährigen Mann missbraucht und ermordet.
Jennifer (11 Jahre alt) wurde am 13. Januar 1998 in Versmold bei Gütersloh von ihrem Onkel in sein Auto gelockt, missbraucht und erwürgt.
Carla (12 Jahre alt) wurde am 22. Januar 1998 in Wilherms-dorf bei Fürth auf ihrem Schulweg überfallen, missbraucht und bewusstlos in einen Weiher geworfen. Sie starb nach fünf Tagen im Koma.
Die Fälle von Jennifer und von Carla haben mich besonders bewegt. Jennifers Onkel gestand nach seiner Festnahme, dass er das Mädchen im Auto sexuell missbrauchen wollte. Als es sich wehrte, erwürgte er es und versteckte die Leiche in einem Wald. Die Berichte gingen mir unter die Haut. Die Psychologen, die vom Fernsehen befragt wurden, rieten damals, sich gegen Übergriffe nicht zu wehren, um sein Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Noch erschreckender waren die Fernsehbeiträge über den Mord an Carla. Ich sehe noch heute die Reporter vor mir, wie sie mit ihren Mikrofonen vor dem Teich in Wilhermsdorf stehen und berichten, dass man anhand des aufgewühlten Erdreichs feststellen könne, wie sehr sich das Mädchen gewehrt habe. Der Trauergottesdienst wurde im Fernsehen übertragen. Ich saß mit schreckgeweiteten Augen vor dem Bildschirm. Alle diese Mädchen waren in meinem Alter. Nur eines beruhigte mich, wenn ich ihre Fotos in den Nachrichten sah: Ich war nicht das blonde, zarte Mädchen, das die Täter zu bevorzugen schienen. Ich hatte keine Ahnung, wie falsch ich lag.
Was soll schon passieren?
Der letzte Tag meines alten Lebens
Ich versuchte zu schreien. Aber es kam kein Laut heraus. Meine Stimmbänder haben einfach nicht mitgemacht. Alles in mir war ein Schrei. Ein stummer Schrei, den niemand hören konnte.
AM NÄCHSTEN TAG erwachte ich traurig und wütend. Der Ärger über den Zorn meiner Mutter, der dem Vater gegolten hatte und an mir ausgelassen worden war, schnürte mir den Brustkorb ein. Noch mehr quälte mich aber, dass sie mir verboten hatte, ihn jemals wiederzusehen. Es war eine dieser leichtfertig dahingesagten Entscheidungen gewesen, die Erwachsene über die Köpfe von Kindern hinweg fällen - aus Zorn oder aus einer plötzlichen Laune heraus, ohne zu bedenken, dass es dabei nicht nur um sie, sondern auch um die tiefsten Bedürfnisse derer geht, die solchen Schiedssprüchen ohnmächtig gegenüberstehen.
Ich hasste dieses Gefühl der Ohnmacht, ein Gefühl, das mich daran erinnerte, ein Kind zu sein. Ich wollte endlich erwachsener werden, in der Hoffnung, die Auseinandersetzungen mit meiner Mutter würden mir dann nicht mehr so nahe gehen. Ich wollte lernen, meine Gefühle hinunterzuschlucken und damit auch diese tiefgehende Angst, die Streit mit den Eltern bei Kindern auslöst.
Mit meinem zehnten Geburtstag hatte ich den ersten und unselbständigsten Abschnitt meines Lebens hinter mich gebracht. Das magische Datum, das meine Selbständigkeit auch amtlich verbriefen würde, rückte näher: Noch acht Jahre, dann würde ich ausziehen und mir einen Beruf suchen. Dann würde ich nicht länger von den Entscheidungen der Erwachsenen rund um mich herum abhängig sein, denen meine Bedürfnisse weniger wert waren als ihre kleinen Streitigkeiten und Eifersüchteleien. Acht Jahre noch, die ich nützen wollte, um mich auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten.
Einen wichtigen Schritt in Richtung Selbständigkeit hatte ich bereits einige Wochen zuvor getan: Ich hatte meine Mutter davon überzeugt, dass sie mich allein zur Schule gehen ließ. Obwohl ich bereits in der vierten Klasse war, hatte sie mich bis dahin immer mit dem Auto vor der Schule abgesetzt. Die Fahrt dauerte nicht einmal fünf Minuten. Jeden Tag hatte ich mich vor den anderen Kindern für meine Schwäche geschämt, die für jeden sichtbar wurde, wenn ich aus dem Auto stieg und meine Mutter mir einen Abschiedskuss gab. Eine
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