3096 Tage
folgen sollten.
Sechs Tage nach der Entführung teilte der Leiter der Ermittlungen den Medien mit: »In Osterreich wie auch in Ungarn, wo uniformierte Beamte mit Fahndungsplakaten nach Natascha suchen, wird nicht aufgegeben. Die Hoffnung, das Kind lebend wieder zu sehen, ist allerdings geschwunden.« Keiner der zahlreichen Hinweise habe sich als heiße Spur erwiesen.
Dabei war die Polizei dem einzigen, der zu mir hätte führen können, nicht nachgegangen: Schon am Dienstag, einen Tag nach meiner Entführung, hatte sich ein zwölfjähriges Mädchen gemeldet und ausgesagt, dass ein Kind in der Melangasse in einen weißen Lieferwagen mit verdunkelten Scheiben gezerrt worden war. Doch die Polizei nahm diese Information zunächst nicht ernst.
In meinem Verlies ahnte ich nicht, dass man sich draußen bereits mit dem Gedanken auseinanderzusetzen begann, ich könnte tot sein. Ich war überzeugt davon, dass die Großfahndung noch im Gange sei. Wenn ich auf meiner Gartenliege lag und an die weiße, niedrige Decke mit der nackten Glühlampe starrte, malte ich mir aus, wie die Polizei mit jedem einzelnen meiner Mitschüler sprechen würde, und spielte in Gedanken die einzelnen Antworten durch. Ich sah meine Hort-Betreuerinnen vor mir, wie sie wieder und wieder schilderten, wann und wo sie mich das letzte Mal gesehen hatten. Ich überlegte, wer von den vielen Nachbarn in der Rennbahnsiedlung mich wohl beim Verlassen des Hauses beobachtet und ob irgendjemand in der Melangasse die Entführung und den weißen Lieferwagen gesehen hatte.
Noch intensiver hing ich Phantasien darüber nach, dass der Täter doch Lösegeld fordern und mich nach der Geldübergabe freilassen würde. Jedes Mal, wenn ich mir mein Essen auf der Kochplatte wärmte, riss ich die kleinen Fotos der Mahlzeiten vorsichtig aus den Verpackungen und versteckte sie in der Tasche meines Kleides. Ich wusste aus Filmen, dass Entfuhrer manchmal beweisen müssen, dass ihr Opfer noch am Leben ist, damit das Lösegeld auch überwiesen wird. Ich war darauf vorbereitet: Mit den Bildchen konnte ich belegen, dass ich regelmäßig zu essen bekommen hatte. Und mir selbst konnte ich damit beweisen, dass ich noch am Leben war.
Zur Sicherheit schlug ich von der Arbeitsplatte, auf der ich mein Essen wärmte, einen kleinen Splitter Furnier ab, den ich ebenfalls in meinem Kleid versteckte. Damit könnte einfach nichts mehr schiefgehen. Ich stellte mir vor, dass mich der Täter nach der Lösegeldzahlung an einem unbekannten Ort aussetzen und dort allein lassen würde. Meine Eltern würden erst danach von meinem Aufenthaltsort erfahren und mich holen kommen. Wir würden die Polizei verständigen, und ich würde den Beamten den Furniersplitter übergeben. Dann müsste die Polizei nur noch alle Garagen in Strasshof nach Kellerverliesen untersuchen. Die Arbeitsplatte mit dem fehlenden Splitter wäre der letzte Beweis.
In meinem Kopf speicherte ich jedes Detail über den Täter, damit ich ihn nach meiner Freilassung beschreiben konnte. Dabei war ich weitgehend auf Äußerlichkeiten angewiesen, die kaum etwas über ihn verrieten. Bei seinen Besuchen im Verlies trug er alte T-Shirts und Sporthosen von Adidas - praktische Kleidung, damit er sich durch den engen Durchgang zwängen konnte, der zu meinem Gefängnis führte.
Wie alt er wohl war? Ich verglich ihn mit den Erwachsenen aus meiner Familie: jünger als meine Mutter, aber älter als meine Schwestern, die damals um die dreißig waren. Obwohl er jung aussah, sagte ich ihm einmal auf den Kopf zu: »Du bist 35.« Dass ich richtig lag, erfuhr ich erst viel später.
Tatsächlich aber fand ich seinen Namen heraus - um ihn sofort wieder zu vergessen. »Schau, so heiße ich«, sagte er einmal, genervt von meinen ewigen Fragen, und hielt mir für Sekunden seine Visitenkarte vors Gesicht. »Wolfgang Priklopil« stand darauf. »Das ist natürlich nicht wirklich mein Name«, schob er sofort nach und lachte. Ich glaubte ihm. Dass ein Schwerverbrecher einen so banalen Namen wie Wolfgang tragen sollte, erschien mir unglaubwürdig. Den Nachnamen konnte ich so schnell kaum entziffern - er ist kompliziert und für ein aufgeregtes Kind schwer zu merken. »Vielleicht heiße ich ja auch Holzapfel«, fügte er noch hinzu, bevor er die Tür wieder hinter sich schloss. Damals konnte ich mit diesem Namen nichts anfangen. Heute weiß ich, dass Ernst Holzapfel für Wolfgang Priklopil wohl so etwas war wie ein bester Freund.
* * *
Je näher der
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