3096 Tage
25. März rückte, umso nervöser wurde ich. Ich hatte Priklopil seit meiner Entführung jeden Tag nach dem Datum und der Uhrzeit gefragt, um die Orientierung nicht völlig zu verlieren. Es gab für mich keine Tage und keine Nächte, und obwohl draußen der Frühling begann, blieb es im Verlies fröstelnd kühl, sobald ich die Heizung ausschaltete. Eines Morgens antwortete er: »Montag, 23. März.« Seit drei Wochen hatte ich nicht den geringsten Kontakt mit der Außenwelt gehabt. Und in zwei Tagen feierte meine Mutter Geburtstag.
Das Datum hatte für mich eine hohe Symbolkraft: Wenn ich es verstreichen lassen müsste, ohne meiner Mutter gratulieren zu können, wäre die Gefangenschaft von einem vorübergehenden Alptraum zu etwas unumstößlich Realem geworden. Bisher hatte ich nur ein paar Tage Schule versäumt. Aber an einem wichtigen Familienfeiertag nicht zu Hause zu sein bedeutete, eine deutliche Wegmarke zu setzen. »Das war jener Geburtstag, an dem Natascha nicht da war«, hörte ich meine Mutter rückblickend ihren Enkeln erzählen. Oder, schlimmer: »Das war der erste Geburtstag, an dem Natascha nicht da war.«
Es verstörte mich zutiefst, dass ich im Streit gegangen war und meiner Mutter nun nicht einmal zu ihrem Geburtstag sagen konnte, dass ich das alles nicht so gemeint hatte und sie doch liebte. Ich versuchte in meinem Kopf die Zeit anzuhalten und überlegte verzweifelt, wie ich ihr eine Nachricht schicken könnte. Vielleicht würde es ja dieses Mal klappen, anders als bei meinem Brief. Ich würde auch darauf verzichten, irgendwelche versteckten Hinweise auf meinen Aufenthaltsort einzuflechten. Ein Lebenszeichen zum Geburtstag, das war alles, was ich wollte.
Beim nächsten gemeinsamen Essen redete ich so lange auf den Täter ein, bis er sich bereit erklärte, mir am folgenden Tag einen Kassettenrekorder ins Verlies zu bringen. Ich durfte meiner Mutter eine Nachricht aufnehmen!
Ich nahm all meine Kraft zusammen, um auf dem Band möglichst fröhlich zu klingen: »Liebe Mama, mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen um mich. Alles Gute zum Geburtstag. Ich vermisse dich unsäglich.« Ich musste mehrmals ansetzen, weil mir die Tränen die Wangen hinunterliefen und ich nicht wollte, dass mich meine Mutter schluchzen hörte.
Als ich fertig war, nahm Priklopil das Tonband an sich und versicherte mir, er würde meine Mutter anrufen und es ihr vorspielen. Ich wollte nichts so sehr, wie ihm glauben. Es war für mich eine unendliche Erleichterung, dass sich meine Mutter nun nicht mehr so große Sorgen um mich würde machen müssen.
Sie hat das Band nie gehört.
Für den Täter war die Behauptung, meiner Mutter das Tonband vorgespielt zu haben, ein wichtiger Schachzug in seinem manipulativen Spiel um Dominanz: Denn wenig später wechselte er die Strategie und sprach nicht mehr länger von Auftraggebern - sondern von einer Entführung für Lösegeld.
Er behauptete wieder und wieder, dass er meine Eltern kontaktiert habe, diese aber offensichtlich kein Interesse daran hätten, dass ich freikam. »Deine Eltern haben dich gar nicht lieb.«
»Sie wollen dich nicht zurück.«
»Sie sind froh, dass sie dich endlich los sind.«
Die Sätze sickerten wie Säure in die offenen Wunden eines Kindes, das sich schon zuvor ungeliebt gefühlt hatte. Ich glaubte ihm zwar kein einziges Mal, dass meine Eltern mich nicht auslösen wollten. Ich wusste, dass sie nicht viel Geld hatten, aber ich war felsenfest davon überzeugt, dass sie alles tun würden, um das Lösegeld irgendwie aufzutreiben.
»Ich weiß, dass meine Eltern mich liebhaben, sie haben mir das immer gesagt«, hielt ich tapfer gegen die hämischen Bemerkungen des Täters. Der sehr bedauerte, dass er leider immer noch keine Antwort habe.
Doch der Zweifel, der schon vor der Gefangenschaft gesät war, ging auf.
Er untergrub systematisch meinen Glauben an meine Familie und damit ein wichtiges Fundament meines ohnehin angeschlagenen Selbstbewusstseins. Die Sicherheit einer Familie im Rücken, die alles tat, um mich zu befreien, schwand langsam dahin. Denn es verging Tag um Tag, und niemand kam, um mich zu befreien.
* * *
Warum war gerade ich Opfer dieses Verbrechens geworden? Warum hatte er mich ausgewählt und eingesperrt? Diese Fragen begannen mich damals zu quälen, und sie beschäftigen mich heute noch immer. Der Grund für dieses Verbrechen war so schwer zu fassen, dass ich verzweifelt nach einer Antwort suchte: Ich wünschte mir, dass die Entführung
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