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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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Strategiespiel namens »Kaiser«: Man herrscht in diesem Spiel über Völker und tritt gegeneinander an, um Kaiser zu werden. Dieses Spiel mochte er am liebsten. Mit Begeisterung schickte er seine Völker in den Krieg, er ließ sie auch hungern oder Zwangsarbeit leisten, solange es dem Ausbau seiner Macht diente und seine Heerscharen dadurch nicht dezimiert wurden.
    Noch geschah das alles in einer virtuellen Welt. Aber es sollte nicht lange dauern, bis er mir sein anderes Gesicht zeigte.
    »Wenn du nicht tust, was ich sage, dann muss ich dir das Licht abdrehen.«
    »Wenn du nicht brav bist, dann muss ich dich fesseln.«
    Ich hatte in meiner Situation ja gar keine Möglichkeit, nicht »brav« zu sein, und wusste nicht, was er meinte. Manchmal reichte es schon, wenn ich eine ruckartige Bewegung machte, um seine Stimmung zum Kippen zu bringen. Wenn ich ihn ansah, obwohl er wollte, dass ich den Blick starr auf den Boden heftete. Alles, was nicht der Schablone entsprach, mit der er mein Verhalten für sich vorzeichnete, beflügelte seine Paranoia. Dann beschimpfte er mich und bezichtigte mich ein ums andere Mal, ihn doch nur hinters Licht zu führen, ihm etwas vorzuspielen. Es war wohl die Unsicherheit, ob ich mich nicht doch mit der Außenwelt verständigen konnte, die ihn zu seinen verbalen Entgleisungen trieb. Er mochte es nicht, wenn ich auf meinem Standpunkt beharrte, dass er mir unrecht tat. Er wollte Anerkennung hören, wenn er mir etwas brachte. Lob für die Anstrengung, die er nur meinetwegen unternehmen musste, um etwa die schwere Heizung in das Verlies zu schleppen. Schon damals begann er in Ansätzen, von mir Dankbarkeit zu fordern. Schon damals versuchte ich, sie ihm, so gut es eben ging, zu verweigern: »Ich bin nur hier, weil du mich eingesperrt hast.« Insgeheim konnte ich natürlich gar nicht anders, als mich zu freuen, wenn er mir Essen und dringend benötigte Gegenstände brachte.
    Es erscheint mir heute, als Erwachsene, erstaunlich, dass meine Angst, meine immer wiederkehrende Panik, nicht auf die Person des Täters an sich gerichtet war. Es mag eine Reaktion auf sein unscheinbares Außeres gewesen sein, auf seine Unsicherheit oder seine Strategie, mich innerhalb dieser untragbaren Situation so weit es ging in Sicherheit zu wiegen - indem er sich als Bezugsperson unentbehrlich machte. Das Bedrohliche an meiner Situation war das Verlies unter der Erde, die geschlossenen Wände und Türen und die angeblichen Auftraggeber. Der Täter selbst wirkte in manchen Momenten, als wäre diese Tat nur eine Pose, die er eingenommen hatte, die aber mit seiner Persönlichkeit nicht übereinstimmte. In meiner kindlichen Phantasie hatte er irgendwann beschlossen, zu einem Verbrecher zu werden und eine böse Tat zu begehen. Ich zweifelte nie daran, dass seine Tat ein Verbrechen war, das auch bestraft werden musste. Aber ich trennte sie klar von der Person, die sie begangen hatte. Der Bösewicht war doch ganz sicher nur eine Rolle.
     
    * *  *
     
    »Ab jetzt musst du dir selbst etwas kochen.«
    An einem Morgen in der ersten Woche kam der Täter mit einem Kästchen aus dunklem Sperrholz in das Verlies. Er rückte es an die Wand, stellte eine Kochplatte und ein kleines Backrohr darauf und schloss beides an den Strom an. Dann verschwand er wieder. Als er zurückkehrte, hatte er einen Edelstahltopf und einen Stapel Fertiggerichte im Arm: Dosen mit Bohnen und Gulasch und eine Auswahl jener Schnellgerichte in kleinen, weißen Plastikwannen, verpackt in bunte Kartonhüllen, die man über Wasserdampf wärmt. Dann erklärte er mir, wie die Kochplatte funktionierte.
    Ich war froh, ein winziges Stück Eigenständigkeit zurückzubekommen. Aber als ich die erste Dose Bohnen in den kleinen Topf goss und auf die Platte stellte, wusste ich nicht, auf welche Stufe ich sie einschalten musste und wie lange es dauern würde, bis das Essen fertig war. Ich hatte mir noch nie etwas zu essen gekocht und fühlte mich allein und überfordert. Und ich vermisste meine Mutter.
    Rückblickend erscheint es mir erstaunlich, dass er einer Zehnjährigen das Kochen überließ, wo er doch sonst so darauf bedacht war, in mir das kleine hilflose Kind zu sehen. Aber von nun an wärmte ich mir eine Mahlzeit am Tag selbst auf der Kochplatte auf. Der Täter kam immer morgens und noch einmal entweder zu Mittag oder am Abend ins Verlies. Morgens brachte er mir eine Tasse Tee oder Kakao, ein Stück Kuchen oder eine Schale Müsli. Zu Mittag oder am Abend - je

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