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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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wusste ja, dass ich irgendwo in Strasshof gefangen war, wo auch die Schwiegereltern meiner Schwester wohnten. Ich hoffte, dass eine Andeutung auf ihre Familie hin genügen würde, um meine Eltern - und die Polizei - auf die richtige Spur zu locken.
    Um zu beweisen, dass ich diesen Brief selbst geschrieben hatte, legte ich ein Foto aus meinem Federmäppchen bei. Es zeigte mich im Winter des Vorjahres beim Eislaufen, eingepackt in einen dicken Overall, ein Lächeln auf dem Gesicht, die Backen gerötet. Es erschien mir wie ein Schnappschuss aus einer sehr fernen Welt: einer Welt mit lautem Kinderlachen, Popmusik aus scheppernden Lautsprechern und Unmengen an kalter, frischer Luft. Einer Welt, in der man nach einem Nachmittag auf dem Eis nach Hause in die Badewanne darf und bei einem Kakao fernsieht. Ich starrte minutenlang auf das Foto und prägte mir jedes Detail genau ein, um das Gefühl, das ich mit diesem Ausflug verband, niemals zu vergessen. Ich ahnte wohl, dass ich mir jede glückliche Erinnerung bewahren musste, um in dunklen Momenten darauf zurückgreifen zu können. Dann steckte ich das Foto zum Brief und bastelte aus einem weiteren Bogen Papier ein Kuvert.
    In einer Mischung aus Naivität und Zuversicht wartete ich auf den Täter.
    Als er kam, bemühte ich mich, gefasst und freundlich zu sein. »Du musst meinen Eltern diesen Brief schicken, damit sie wissen, dass ich am Leben bin!« Er öffnete das Kuvert, las meine Zeilen und lehnte ab. Ich bettelte und flehte ihn an, meine Eltern nicht länger im Ungewissen zu lassen. Ich appellierte an das Gewissen, das doch auch er haben müsse: »Du darfst nicht so ein böser Menschen werden«, erklärte ich ihm. Seine Tat sei böse, aber meine Eltern leiden zu lassen sei noch viel schlimmer. Ich suchte nach immer neuen Gründen, warum und weshalb, und versicherte ihm, dass ihm durch den Brief nichts passieren könne. Er habe ihn doch selbst gelesen und wisse schließlich, dass ich ihn darin nicht verraten hätte ... Der Täter sagte lange »Nein« - und gab dann plötzlich nach. Er sicherte mir zu, den Brief per Post an meine Eltern zu schicken.
    Es war vollkommen naiv, aber ich wollte ihm einfach glauben. Ich legte mich auf meine Gartenliege und malte mir aus, wie meine Eltern den Brief öffnen, wie sie meinen versteckten Hinweis finden und mich befreien würden. Geduld, ich musste nur ein wenig Geduld haben, dann wäre dieser Alptraum vorbei.
    Am Tag darauf stürzte mein Phantasiegebäude wie ein Kartenhaus zusammen. Der Täter kam mit einem verletzten Finger in mein Verlies und behauptete, »jemand« habe ihm in einem Streit den Brief entrissen und ihn, der darum gekämpft habe, dabei verletzt. Er ließ durchklingen, dass es seine Auftraggeber gewesen seien, die nicht wollten, dass ich Kontakt zu meinen Eltern aufnähme. Die fiktiven Bösewichte aus dem Pornoring erhielten damit eine bedrohliche Realität. Und gleichzeitig rückte sich der Täter in eine Position des Beschützers: Er habe meinen Wunsch schließlich erfüllen wollen und sich sogar so sehr eingesetzt, dass er eine Verletzung in Kauf nahm.
    Heute weiß ich, dass er nie vorgehabt hatte, diesen Brief abzuschicken, und ihn wohl verbrannt hat, wie alle anderen Dinge, die er mir genommen hatte. Damals wollte ich ihm glauben.
     
    * *  *
     
    In den ersten Wochen tat der Täter alles, um das Bild des vermeintlichen Beschützers nicht zu beschädigen. Er erfüllte mir sogar meinen größten Wunsch: einen Computer. Es war ein alter Commodore C64 mit wenig Speicherplatz, aber einigen Floppy-Discs mit Spielen, mit denen ich mich ablenken konnte. Am liebsten spielte ich ein »Mampf-Spiel«: Man bewegte dabei ein kleines Männchen durch ein unterirdisches Labyrinth, wo es Monstern ausweichen und Bonuspunkte fressen musste - eine etwas ausgefeiltere Version von Pacman. Ich verbrachte Stunde um Stunde damit, Punkte zu sammeln. Wenn der Täter im Verlies war, spielten wir manchmal auf einem geteilten Bildschirm gegeneinander. Er ließ mich, das kleine Kind, damals oft gewinnen. Die Analogie zu meiner eigenen Situation im Keller, in den jederzeit Monster eindringen konnten, denen man ausweichen musste, sehe ich heute.
    Meine Bonuspunkte waren Belohnungen wie dieser Computer, »erspielt« durch »tadelloses« Verhalten.
    Wenn ich des Mampf-Spiels überdrüssig wurde, wechselte ich auf Space-Pilot, bei dem man durch den Weltraum fliegt und fremde Raumschiffe abschießt. Das dritte Spiel auf meinem C64 war ein

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