3096 Tage
irgendeinen Sinn, ein klare Logik hatte, die mir vielleicht bisher nur verborgen geblieben war, die sie aber zu mehr machte als einem zufälligen Angriff auf mich. Es ist bis heute schwer zu ertragen, allein wegen der Laune und der psychischen Krankheit eines einzelnen Mannes meine Jugendzeit verloren zu haben.
Vom Täter selbst bekam ich auf diese Fragen keine Antwort, obwohl ich immer wieder nachbohrte. Nur einmal antwortete er: »Ich habe dich auf einem Schulfoto gesehen und ausgewählt.« Aber auch diese Aussage zog er sofort zurück. Später würde er sagen: »Du bist mir zugelaufen wie eine streunende Katze. Katzen darf man behalten.« Oder: »Ich habe dich gerettet. Du solltest mir dankbar sein.« Gegen Ende meiner Gefangenschaft war er wohl am ehrlichsten: »Ich wollte immer schon eine Sklavin.« Doch bis zu diesem Satz würden noch Jahre vergehen.
Ich habe nie erfahren, warum er gerade mich entführt hatte. Weil es nahelag, mich als Opfer auszuwählen? Priklopil ist im selben Wiener Bezirk wie ich aufgewachsen. In der Zeit, in der ich mit meinem Vater bei seinen Auslieferungstouren durch die Lokale zog, war er ein junger Mann Ende zwanzig, der sich im selben Dunstkreis bewegte wie wir. Ich war ja in meiner Volksschulzeit immer wieder erstaunt, wie viele Menschen mich freudig grüßten, weil sie mich von diesen Touren mit meinem Vater kannten, der mich in meinen hübschen gebügelten Kleidchen gerne herumzeigte. Er mag einer der Männer gewesen sein, denen ich damals aufgefallen bin.
Genauso gut möglich ist es aber, dass es andere waren, die ihn auf mich aufmerksam gemacht haben. Vielleicht stimmte die Geschichte mit dem Pornoring doch. Es gab damals sowohl in Osterreich als auch in Deutschland genug solcher Organisationen, die auch nicht davor zurückschreckten, Kinder für ihre grausamen Praktiken zu entführen. Und die Entdeckung des Verlieses im Haus von Marc Dutroux in Belgien, der immer wieder Mädchen verschleppt und missbraucht hatte, war gerade einmal zwei Jahre her. Dennoch weiß ich bis heute nicht sicher, ob Priklopil - wie er am Anfang immer behauptete - mich im Auftrag anderer gekidnappt oder ob er allein gehandelt hatte. Ich versuche bis heute, den Gedanken an diese Möglichkeit zu verdrängen: Es ist zu unheimlich zu vermuten, dass irgendwo da draußen die wahren Schuldigen noch frei sind. Während meiner Gefangenschaft sprach allerdings, von den anfänglichen Andeutungen Priklopils abgesehen, nichts für Mittäter.
Ich hatte damals ein klares Bild von Entführungsopfern: Es waren blonde Mädchen, klein und sehr dünn, fast durchsichtig, die engelhaft und schutzlos durch die Welt glitten. Ich stellte sie mir als Wesen vor, deren Haar so seidig ist, dass man es unbedingt berühren muss. Deren Schönheit kranke Männer so betäubt, dass sie zu Gewaltverbrechern werden, um sie in ihrer Nähe zu haben. Ich hingegen war dunkelhaarig und fühlte mich plump und unansehnlich. Am Morgen meiner Entführung mehr denn je. Ich passte nicht in mein eigenes Bild eines entführten Mädchens.
Im Rückblick weiß ich, dass dieses Bild falsch war. Es sind eher die unscheinbaren Kinder mit geringem Selbstbewusstsein, die sich die Täter aussuchen, um sie zu quälen. Schönheit ist keine Kategorie, wenn es um Entführung oder sexuelle Gewalt geht. Studien zeigen, dass geistig und körperlich Behinderte sowie Kinder ohne Familienanschluss einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, Opfer eines Verbrechers zu werden. In der »Rangliste« folgen Kinder, wie ich eines war an jenem Morgen des 2. März: Ich war eingeschüchtert, hatte Angst und gerade noch geweint. Ich bewältigte meinen Schulweg unsieher, meine Schritte waren zögerlich und klein. Vielleicht hat er das gesehen. Vielleicht hat er gemerkt, wie wertlos ich mich fühlte, und an diesem Tag spontan beschlossen, dass ich sein Opfer sein sollte.
Mangels äußerer Anhaltspunkte dafür, warum ausgerechnet ich zum Opfer geworden war, begann ich in meinem Verlies, die Schuld bei mir zu suchen. Der Streit mit meiner Mutter am Abend vor meiner Entführung lief in einer Endlosschleife vor meinen Augen ab. Ich hatte Angst vor dem Gedanken, dass die Entführung eine Strafe dafür sein könnte, dass ich eine schlechte Tochter gewesen war. Dass ich ohne ein Wort der Versöhnung gegangen war. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich forschte in meiner Vergangenheit nach allen Fehlern, die ich gemacht hatte. Jedes kleine böse Wort. Jede Situation, in der ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher