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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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höflich, brav oder nett gewesen war. Heute weiß ich, dass es ein weitverbreiteter Mechanismus ist, dass Opfer sich selbst die Schuld an dem Verbrechen geben, das ihnen angetan wurde. Damals war es ein Strudel, der mich mitriss und dem ich nichts entgegenzusetzen hatte.
     
    * *  *
     
    Die quälende Helligkeit, die mich während der ersten Nächte wach gehalten hatte, war inzwischen totaler Dunkelheit gewichen. Wenn der Täter am Abend die Glühbirne herausdrehte und die Tür hinter sich schloss, fühlte ich mich von allem abgeschnitten: blind, taub vom andauernden Surren des Ventilators, unfähig, mich im Raum zu orientieren und manchmal auch nur mich selbst zu spüren. In der Sprache der Psychologen nennt man das »Sensory Deprivation«: Reizentzug. Das Abschneiden von allen Sinneseindrücken. Damals wusste ich nur, dass ich Gefahr lief, in dieser einsamen Dunkelheit den Verstand zu verlieren.
    Von dem Moment an, in dem er mich abends allein ließ, bis zum Frühstück war ich in einem völlig lichtlosen Schwebezustand gefangen. Ich konnte nichts tun als liegen und ins Dunkle starren. Manchmal schrie ich noch oder trommelte an die Wände, in der verzweifelten Hoffnung, dass mich jemand hören konnte.
    In meiner ganzen Angst und Einsamkeit war ich auf mich allein gestellt. Ich versuchte, mir selbst Mut zuzusprechen und meine Panik mit »rationalen« Mitteln zurückzudrängen. Es waren Worte, die mich damals retteten. Wie andere stundenlang häkeln und am Ende ein filigranes Spitzendeckchen entsteht, so verwob ich in meinem Kopf Worte ineinander und schrieb mir selbst lange Briefe und kleine Geschichten, die nie jemand zu Papier bringen würde.
    Der Ausgangspunkt meiner Geschichten war meist meine Zukunftsplanung. Ich stellte mir in allen Einzelheiten vor, wie das Leben nach meiner Befreiung aussehen würde. Ich würde mich in allen Schulfächern verbessern und meine Angst vor Menschen überwinden. Ich nahm mir vor, sportlich zu werden und abzunehmen, damit ich an den Spielen der anderen Kinder teilnehmen konnte. Ich dachte mir aus, wie ich nach der Befreiung in eine andere Schule gehen würde - ich war ja in der vierten Klasse Volksschule - und wie die anderen Kinder auf mich reagieren würden. Ob man mich dort wegen des Entführungsfalles wohl kennen würde? Würden sie mir glauben und mich als eine der ihren akzeptieren? Am liebsten aber malte ich mir das Zusammentreffen mit meinen Eltern aus. Wie sie mich in den Arm nehmen würden und mein Vater mich hochheben und durch die Luft wirbeln würde. Wie die heile Welt meiner frühen Kindheit zurückkommen und die Zeit des Streits und der Demütigungen vergessen machen würde.
    In anderen Nächten genügten solche Zukunftsphantasien nicht. Dann übernahm ich die Rolle meiner abwesenden Mutter, spaltete mich gewissermaßen in zwei Teile auf und sprach mir selbst Mut zu: Das ist jetzt wie ein Urlaub. Du bist zwar von zu Hause weg, aber im Urlaub kannst du ja auch nicht einfach anrufen. Es gibt im Urlaub kein Telefon und man bricht auch nicht ab, bloß weil man einmal eine schlechte Nacht gehabt hat. Wenn der Urlaub vorbei ist, kommst du wieder zu uns nach Hause und dann geht die Schule auch schon wieder los.
    Bei diesen Monologen sah ich meine Mutter genau vor mir. Ich hörte, wie sie mir mit fester Stimme sagte: »Reiß dich zusammen, es hat jetzt keinen Sinn, sich aufzuregen. Du musst da jetzt durch, und danach ist alles wieder gut.« Ja. Wenn ich nur stark war, würde alles wieder gut werden.
    Wenn das alles nichts nützte, versuchte ich, mir eine Situation der Geborgenheit ins Gedächtnis zu rufen. Dabei half mir eine Flasche Franzbranntwein, um die ich den Täter gebeten hatte. Meine Großmutter hatte sich damit immer eingerieben. Der scharfe, frische Geruch versetzte mich sofort in ihr Haus in Süßenbrunn und gab mir ein warmes Gefühl der Sicherheit. Wenn das Hirn nicht mehr ausreichte, dann half die Nase, die Verbindung zu mir selbst - und den Verstand - nicht zu verlieren.
     
    * *  *
     
    Mit der Zeit versuchte ich, mich an den Täter zu gewöhnen. Ich stellte mich intuitiv auf ihn ein, so wie man sich den unverständlichen Sitten der Menschen in einem fremden Land anpasst.
    Heute denke ich: Es mag mir geholfen haben, dass ich noch ein Kind war. Als Erwachsene hätte ich diese extreme Form der Fremdbestimmung und psychischen Folter, der ich als Gefangene in einem Keller ausgesetzt war, wohl kaum heil überstanden. Aber Kinder sind von klein an darauf

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