3096 Tage
Licht- und Essensentzug für das laute Singen. Und ich musste die nächsten Tage ohne Musik einschlafen.
Sein zweites Kontrollinstrument wurde die Gegensprechanlage. Als er damit in das Verlies kam und begann, die Kabei zu montieren, erklärte er mir: »Ab jetzt kannst du oben läuten und mich rufen.« Ich freute mich im ersten Moment darüber und spürte, wie eine große Angst von mir abfiel. Der Gedanke, ich käme plötzlich in eine Notsituation, hatte mich schon seit Beginn meiner Gefangenschaft gequält: Ich war ja zumindest über das Wochenende oft allein und konnte nicht einmal den einzigen Menschen, der wusste, wo ich war - den Täter -, auf mich aufmerksam machen. Ich hatte unzählige Situationen im Kopf durchgespielt: Ein Kabelbrand, ein Wasserrohrbruch, ein plötzlicher allergischer Anfall ... selbst an einer verschluckten Wursthaut hätte ich in diesem Verlies elendig sterben müssen, auch wenn der Täter zu Hause war. Er kam ja nur, wenn er wollte. Die Gegensprechanlage erschien mir deshalb wie ein Rettungsanker. Erst später erkannte ich den eigentlichen Sinn dieser Einrichtung. Eine Gegensprechanlage funktioniert in zwei Richtungen. Der Täter nutzte sie, um mich zu kontrollieren. Um mir seine Allmacht auch dadurch zu demonstrieren, dass er jedes Geräusch, das ich von mir gab, hören, dass er alles kommentieren konnte.
Die erste Version, die der Täter installierte, bestand im Wesentlichen aus einem Knopf, den ich drücken sollte, wenn ich etwas brauchte: Dann leuchtete oben in seiner Wohnung an einer versteckten Stelle ein rotes Licht auf. Doch weder konnte er das Lämpchen immer sehen, noch würde er jederzeit die komplizierte Prozedur auf sich nehmen und das Verlies aufsperren, ohne zu wissen, was ich überhaupt wollte. Und an den Wochenenden konnte er gar nicht erst hinunter. Erst viel später habe ich erfahren, dass das an den Besuchen seiner Mutter lag, die an den Wochenenden im Haus übernachtete: Es wäre viel zu langwierig und auffällig gewesen, die vielen Hürden zwischen der Garage und meinem Verlies wegzuräumen, solange sie anwesend war.
Kurze Zeit später ersetzte er das Provisorium durch eine Anlage, durch die man auch sprechen konnte. Per Knopfdruck schallten nun seine Anweisungen und Fragen in mein Verlies.
»Hast du dein Essen eingeteilt?«
»Hast du Zähne geputzt?«
»Hast du den Fernseher abgestellt?«
»Wie viele Seiten hast du gelesen?«
»Hast du Rechenübungen gemacht?«
Ich schreckte jedes Mal hoch, wenn seine Stimme die Stille durchschnitt. Wenn er mir Konsequenzen androhte, weil ich zu langsam geantwortet hatte. Oder zu viel gegessen hatte.
»Hast du schon wieder alles vorzeitig aufgegessen?«
»Hab ich dir nicht gesagt, dass du am Abend nur ein Stück Brot essen darfst?«
Die Gegensprechanlage war das perfekte Instrument, um mich zu terrorisieren. Bis ich entdeckte, dass es auch mir ein kleines Stück Macht verlieh. Aus heutiger Sicht scheint es mir gerade wegen des ausgeprägten Kontrollwahns des Täters erstaunlich, dass er wohl nicht auf die Idee gekommen war, dass ein zehnjähriges Mädchen dieses Gerät genauer untersuchen würde. Das aber tat ich nach ein paar Tagen.
Die Anlage hatte drei Knöpfe. Wenn man auf »Sprechen« drückte, war die Leitung nach beiden Seiten hin offen. Das war die Einstellung, die er mir gezeigt hatte. War die Anlage auf »Zuhören« gestellt, konnte ich zwar seine Stimme hören, er aber mich nicht. Der dritte Knopf hieß »Dauer«: Wenn man ihn drückte, blieb die Leitung von meiner Seite her offen - doch von oben herrschte Stille.
Ich hatte schon in der direkten Konfrontation mit ihm gelernt, die Ohren auf Durchzug zu stellen. Nun hatte ich einen Knopf dafür: Wenn mir die Fragen, Kontrollen und Anschuldigungen zu viel wurden, drückte ich auf »Dauer«. Es verschaffte mir eine tiefe Befriedigung, wenn seine Stimme verstummte und nur ich allein den Knopf betätigt hatte, der das geschafft hatte. Ich liebte diesen »Dauer«-Knopf, der den Täter kurz aus meinem Leben sperren konnte. Als Priklopil meine kleine Rebellion mit dem Zeigefinger mitbekam, reagierte er erst fassungslos, dann ungehalten und wütend. Nur selten kam er deswegen ins Verlies hinunter, um mich zu bestrafen. Er brauchte ja jedes Mal fast eine Stunde, um die vielen Türen und Sicherungen zu öffnen. Doch es war klar, dass er sich etwas Neues einfallen lassen würde.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er die Gegensprechanlage mit dem segensreichen Knopf
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