Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
Vom Netzwerk:
verstärkte.
    Verzweifelt bewegte ich Millimeter für Millimeter den Senderknopf hin und her, richtete immer wieder die Antenne neu aus. Doch außerhalb dieser einen Frequenz war nur lautes Rauschen zu hören.
    Später bekam ich vom Täter einen Walkman. Da ich vermutete, dass er eher Musik von älteren Bands zu Hause hatte, wünschte ich mir Kassetten von den Beatles und Abba. Wenn am Abend das Licht ausging, musste ich nun nicht mehr allein mit meiner Angst im Dunkeln liegen, sondern konnte - solange die Batterien reichten - Musik hören. Wieder und wieder die gleichen Stücke.
     
    * *  *
     
    Mein wichtigstes Hilfsmittel gegen die Langeweile und das Verrücktwerden waren Bücher. Das erste Buch, das der Täter mir brachte, war »Das fliegende Klassenzimmer« von Erich Kästner. Dann folgte eine Reihe von Klassikern - »Onkel Toms Hütte«, »Robinson Crusoe«, »Tom Sawyer«, »Alice im Wunderland«, »Das Dschungelbuch«, »Die Schatzinsel« und »Kon-Tiki«. Ich verschlang die »Lustigen Taschenbücher« rund um die Enten Donald Duck, seine drei Neffen, den geizigen Onkel Dagobert und den erfinderischen Daniel Düsentrieb. Später wünschte ich mir Agatha Christie, deren Bücher ich von meiner Mutter kannte, und las ganze Stapel von Kriminalromanen wie Jerry Cotton und Science-Fiction-Storys. Die Romane katapultierten mich in eine andere Welt und nahmen meine Aufmerksamkeit so gefangen, dass ich über Stunden vergaß, wo ich war. Und genau das war es, was mir das Lesen so überlebenswichtig machte. Während ich mir mit Fernsehen und Radio die Illusion von Gesellschaft ins Verlies holte, konnte ich es beim Lesen gedanklich für Stunden verlassen.
    Einen besonderen Stellenwert hatten in dieser ersten Zeit, als ich noch ein zehnjähriges Kind war, die Bücher von Karl May. Ich verschlang die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand und las die Erzählungen über den »Wilden Westen Nordamerikas«. Ein Lied, das deutsche Siedler für den sterbenden Winnetou singen, hat mich dabei so berührt, dass ich es Wort für Wort abschrieb und den Zettel mit Niveacreme an die Wand klebte. Ich hatte damals weder Tesafilm noch einen anderen Klebstoff im Verlies. Es ist ein Gebet an die Mutter Gottes:
     
Es will das Licht des Tages scheiden;
    nun bricht die stille Nacht herein.
    Ach, könnte doch des Herzens Leiden
    so wie der Tag vergangen sein!
    Ich leg mein Flehen dir zu Füßen;
    o, trag's empor zu Gottes Thron,
    und lass, Madonna, lass dich grüßen
    mit des Gebetes frommem Ton:
    Ave, ave Maria!
     
    Es will das Licht des Glaubens scheiden;
    nun bricht des Zweifels Nacht herein.
    Das Gottvertraun der Jugendzeiten,
    es soll uns abgestohlen sein.
    Erhalt, Madonna, mir im Alter
    des Glaubens frohe Zuversicht;
    schütz meine Harfe, meinen Psalter;
    du bist mein Heil, du bist mein Licht!
    Ave, ave Maria!
     
    Es will das Licht des Lebens scheiden;
    nun bricht des Todes Nacht herein.
    Die Seele will die Schwingen breiten;
    es muss, es muss gestorben sein.
    Madonna, ach, in deine Hände
    leg ich mein letztes, heißes Flehn:
    Erbitte mir ein gläubig Ende
    und dann ein selig Auferstehn!Ave, ave Maria!
     
    Ich habe dieses Gedicht damals so oft gelesen, geflüstert und gebetet, dass ich es heute noch auswendig kann. Es schien mir geradezu für mich geschrieben: Mir hatte man auch das »Licht des Lebens« genommen, auch ich sah in dunklen Momenten keinen anderen Ausweg aus meinem Verlies als den Tod.
     
    * *  *
     
    Der Täter wusste, wie sehr ich vom Nachschub an Filmen, Musik und Lesestoff abhängig war, und hatte damit ein neues Machtinstrument an der Hand. Mit Entzug konnte er mich unter Druck setzen.
    Wann immer ich mich in seinen Augen »ungebührlich« verhalten hatte, musste ich damit rechnen, dass er mir die Tür zu jener Welt der Worte und Klänge zuschlug, die wenigstens ein bisschen Ablenkung versprach. Das war besonders schlimm an den Wochenenden. Normalerweise kam der Täter inzwischen jeden Tag in der Früh und meist noch einmal am Nachmittag oder Abend in das Verlies. Doch am Wochenende war ich ganz allein: Von Freitagmittag, manchmal auch schon von Donnerstagabend an, ließ er sich bis Sonntag nicht blicken. Er versorgte mich mit zwei Tagesrationen an Fertiggerichten, einigen frischen Nahrungsmitteln und Mineralwasser, das er aus Wien mitbrachte. Und mit Videos und Büchern. Unter der Woche bekam ich eine Videokassette voll mit Serien - zwei Stunden, wenn ich sehr darum bat, vier. Das scheint mehr, als es ist:

Weitere Kostenlose Bücher