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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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»Revolution!« oder »Lehrer raus!«. Es war kein Verhalten, das in dieser kleinen Klasse von zwanzig Kindern, in der wir behütet lernten wie in einem verlängerten Kindergarten, angebracht schien. Ich weiß nicht, ob ich damals einfach schon etwas weiter an die Pubertät herangerückt war als meine Klassenkameraden oder ob ich damit bei all denen punkten wollte, die mich sonst immer nur hänselten. Im Verlies jedenfalls verlieh mir die kleine Rebellion, die in dieser Zeichnung lag, Kraft. Genau wie das Schimpfwort, das ich an einer versteckten Stelle in kleinen Lettern an die Wand kritzelte: »A...«. Ich wollte damit Widerstandskraft zeigen, etwas Verbotenes tun. Den Täter scheine ich damit nicht beeindruckt zu haben, jedenfalls kommentierte er das Bild mit keinem Wort.
     
    * *  *
     
    Die wichtigste Veränderung aber kam durch einen Fernseher und einen Videorekorder in mein Verlies. Ich hatte Priklopil immer wieder darum gebeten, und eines Tages schleppte er die beiden Geräte tatsächlich nach unten und stellte sie neben den Computer auf die Kommode. Nach Wochen, in denen mir »Leben« ja nur in einer einzigen Form begegnet war, nämlich in Person des Täters, konnte ich mir nun mit Hilfe des Bildschirms einen bunten Abklatsch menschlicher Gesellschaft ins Verlies holen.
    Anfangs hatte der Täter einfach wahllos das Fernsehprogramm eines Tages aufgezeichnet. Es war ihm aber wohl bald zu mühsam, die Nachrichten herauszuschneiden, in denen immer noch über mich berichtet wurde. Er hätte niemals zugelassen, dass ich Hinweise darauf bekam, dass man mich in der Welt draußen nicht vergessen hatte. Das Bild, dass mein Leben für niemanden einen Wert hatte, allen voran nicht für meine Eltern, war schließlich eines seiner wichtigsten psychologischen Mittel, mich gefügig und abhängig zu halten.
    Deshalb nahm er mir später nur noch einzelne Sendungen auf oder brachte mir alte Videokassetten mit Filmen, die er in den frühen 1990er Jahren aufgezeichnet hatte. Der flauschige Außerirdische Alf, die bezaubernde Jeannie, AI Bundy und seine »schrecklich nette Familie« oder die Taylors aus »Hör mal, wer da hämmert« wurden für mich zum Ersatz fur Familie und Freunde. Ich freute mich jeden Tag darauf, ihnen wiederzubegegnen, und beobachtete sie wohl genauer als jeder andere Fernsehzuschauer. Jede Facette ihres Umgangs miteinander, jeder noch so kleine Dialogfetzen erschien mir spannend und interessant. Ich analysierte jedes Detail der Set-Kulissen, die den Radius absteckten, zu dem ich Zugang hatte. Sie waren mein einziges »Fenster« zu anderen Häusern und doch manchmal so dünn und dürftig zusammengezimmert, dass die Illusion, ich hätte Zugang zum »echten Leben« rasch einstürzte. Vielleicht war das auch ein Grund, warum ich mich später vor allem von Science-Fiction-Serien fesseln ließ: »Star Trek«, »Stargate«, »Zurück in die Vergangenheit«, »Zurück in die Zukunft« ... - alles, was mit Raum- und Zeitreisen zu tun hatte, faszinierte mich. Die Helden dieser Filme bewegten sich auf Neuland, in unbekannten Galaxien. Nur dass sie die technischen Mittel hatten, sich aus misslichen Lagen und lebensbedrohlichen Situationen einfach wegbeamen zu können.
     
    * *  *
     
    Eines Tages in jenem Frühling, von dem ich nur aus dem Kalender wusste, brachte mir der Täter ein Radio ins Verlies. Ich machte innerlich einen Freudensprung. Ein Radio, das würde wirklich eine Verbindung in die echte Welt bedeuten! Nachrichten, die vertrauten Morgensendungen, die ich in der Küche beim Frühstück immer gehört hatte, Musik - und vielleicht doch ein zufälliger Hinweis darauf, dass meine Eltern mich noch nicht vergessen hatten.
    »Du kannst damit natürlich keine österreichischen Sender hören«, zerstörte der Täter mit einer beiläufigen Bemerkung meine Illusionen, als er den Apparat ans Stromnetz anschloss und einschaltete. Immerhin, es war Musik zu hören. Doch als der Sprecher eine Ansage machte, verstand ich kein Wort: Der Täter hatte das Radio so manipuliert, dass ich nur tschechische Sender empfangen konnte.
    Ich verbrachte Stunden damit, an dem kleinen Apparat herumzudrehen, der mein Tor zur Welt draußen hätte sein können. Immer in der Hoffnung auf ein deutsches Wort, einen vertrauten Jingle. Nichts. Nur eine Stimme, die ich nicht verstand. Die mir zwar einerseits den Eindruck vermittelte, ich sei nicht allein, in mir aber andererseits das Gefühl der Entfremdung, des Ausgeschlossenseins

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