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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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können, dauerte über sechs Monate; meine Gefangenschaft 3096 Tage.
    Die Gefühle, die diese Zeit in völliger Dunkelheit oder Dauerbestrahlung durch künstliches Licht in mir auslöste, konnte ich damals nicht in Worte fassen. Wenn ich mir heute die vielen Studien ansehe, die die Effekte von Einzelhaft und sensorischer Deprivation - so nennt man den Entzug von Sinneswahrnehmungen - untersuchen, kann ich genau nachvollziehen, was damals mit mir passierte.
    Eine der Studien dokumentiert die folgenden Effekte von »solitary confinement«, wie Isolationshaft auf Englisch heißt:
     
    • erhebliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des vegetativen Nervensystems
    • erhebliche Störungen im Hormonhaushalt
    • Beeinträchtigung von Organfunktionen
    • Ausbleiben der Menstruation bei Frauen ohne physiologisch-organische, alters- oder schwangerschaftsbedingte Ursache (sekundäre Amenorrhoe)
    • verstärktes Gefühl, essen zu müssen: Zynorexie IHeißhunger, Hyperorexie, Fresssucht
    • im Gegensatz dazu Verringerung oder Ausbleiben des Durstgefühls
    • starke Hitzewallungen und/oder Kältegefühle, die sich nicht auf eine entsprechende Veränderung der Umgebungstemperatur oder auf eine Erkrankung (Fieber, Schüttelfrost o. Ä.) zurückführen lassen
    • erhebliche Beeinträchtigung der Wahrnehmung und der kognitiven Leistungsfähigkeit
    • starke Störung der Verarbeitung von Wahrnehmungen
    • starke Störungen des Körpergefühls
    • starke allgemeine Konzentrationsschwierigkeiten
    • starke Schwierigkeiten bis hin zum Unvermögen, zu lesen bzw. das Gelesene gedanklich zu erfassen, nachzuvollziehen und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen
    • starke Schwierigkeiten bis hin zum Unvermögen, zu schreiben bzw. Gedanken schriftlich zu verarbeiten (Agraphie /Dysgraphie)
    • starke Artikulations- / Verbalisierungsschwierigkeiten, die sich besonders in den Bereichen Syntax, Grammatik und Wortwahl zeigen und bis hin zu Aphasie, Aphrasie und Agnosie reichen können
    • starke Schwierigkeit oder Unvermögen, Gesprächen zu folgen (nachgewiesenermaßen aufgrund einer Verlangsamung der Funktion des primären akustischen Kortex der Schläfenlappenanteile aufgrund von Reizmangel)
     
    Weitere Beeinträchtigungen
    • Führen von Selbstgesprächen zur Kompensation der akustischen und sozialen Reizarmut
    • deutlicher Verlust an Gefühlsintensität (z. B. gegenüber Angehörigen und Freunden)
    • situativ euphorische Gefühle, die später in eine depressive Stimmungslage umschlagen
     
    Gesundheitliche Langzeitfolgen
    • soziale Kontaktstörungen bis hin zur Unfähigkeit, emotional enge und langfristige partnerschaftliche Beziehungen einzugehen
    • Depressionen
    • Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls
    • Wiederkehren der Haßsituation in Träumen
    • behandlungsbedürftige Störungen des Blutdrucks
    • behandlungsbedürftige Hauterkrankungen
    • Nicht-Wiedererlangen von insbesondere kognitiven Fähigkeiten (z. B. im Bereich der Mathematik), die vor der Isolationshaft beherrscht wurden
     
    Als besonders schlimm empfanden die Gefangenen die Auswirkungen des Lebens ohne Sinneseindrücke. Die sensorische Deprivation wirkt auf das Gehirn, stört das vegetative Nervensystem und macht aus selbstbewussten Menschen Abhängige, die weit offen sind für den Einfluss jeder Person, der sie nach einer Phase der Dunkelheit und Isolation begegnen. Das gilt selbst fur Erwachsene, die sich freiwillig in eine solche Situation begeben. Im Januar 2008 strahlte die BBC eine Sendung namens »Total Isolation« aus, die mich sehr berührte:
    Sechs Freiwillige ließen sich für 48 Stunden in eine Zelle eines Atombunkers sperren. Allein und ohne Licht begaben sie sich in meine Lage - was die Dunkelheit und die Einsamkeit betrifft, nicht die Angst, nicht die Dauer. Trotz der vergleichsweise kurzen Zeitspanne berichteten alle sechs hinterher, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren und starke Halluzinationen und Visionen erlebt hatten. Eine Frau war überzeugt davon, dass ihr Bettzeug nass war. Drei hatten akustische und visuelle Halluzinationen - sie sahen Schlangen, Austern, Autos, Zebras. Alle hatten nach Ablauf der 48 Stunden die Fähigkeit verloren, simpelste Aufgaben zu lösen. Keinem fiel auf Aufforderung ein Wort mit »F« ein. Einer hatte 36 Prozent seines Gedächtnisses verloren. Vier waren sehr viel leichter zu beeinflussen als vor ihrer Isolation. Sie glaubten alles, was ihnen der erste Mensch sagte, der ihnen

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