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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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nach ihrer freiwilligen Gefangenschaft begegnete. Ich begegnete immer nur dem Täter.
    Wenn ich mich heute mit solchen Studien und Experimenten beschäftige, bin ich selbst erstaunt darüber, dass ich diese Zeit überstanden habe. Meine Situation war in weiten Strecken mit jener vergleichbar, in die sich die Erwachsenen zu Studienzwecken begeben hatten. Abgesehen davon, dass meine Zeit in der Isolation sehr viel länger andauerte, kam in meinem Fall aber noch ein zusätzlicher, erschwerender Faktor hinzu: Ich hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet ich in diese Situation geraten war. Während politische Gefangene sich an ihrer Mission festhalten können und selbst zu Unrecht Verurteilte noch wissen, dass ein Justizsystem mit seinen Paragraphen, Institutionen und Abläufen hinter ihrer Abgeschiedenheit steht, sah ich nicht einmal eine feindliche Logik hinter meiner Gefangenschaft. Es gab keine.
    Es mag mir geholfen haben, dass ich noch ein Kind war und mich so leichter an die widrigsten Umstände anpassen konnte, als es Erwachsene jemals vermögen. Aber es verlangte mir eine Selbstdisziplin ab, die mir rückblickend fast unmenschlich erscheint. Ich behalf mir in den Nächten mit Phantasiereisen durch die Dunkelheit. Tagsüber hielt ich verbissen an meinem Plan fest, an meinem 18. Geburtstag mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich war fest entschlossen, mir das nötige Wissen dafür anzueignen, und verlangte nach Lesestoff und Schulbüchern. Und ich hielt gegen alle Umstände stur an meiner eigenen Identität und der Existenz meiner Familie fest.
    Als der erste Muttertag näher rückte, bastelte ich meiner Mutter ein Geschenk. Ich hatte weder Kleber noch Schere - der Täter gab mir nichts, womit ich mich oder ihn hätte verletzen können. Also malte ich mit den Wachsmalkreiden aus meiner Schultasche einige große rote Herzen auf Papier, riss sie sorgfältig aus und klebte sie mit Nivea-Creme übereinander. Ich stellte mir lebhaft vor, wie ich das Herz meiner Mutter übergeben würde, wenn ich wieder frei war. Sie würde dann wissen, dass ich den Muttertag nicht vergessen hatte, obwohl ich nicht bei ihr sein konnte.
     
    * *  *
     
    Der Täter ertrug es unterdessen immer schlechter, wenn er sah, dass ich mich mit solchen Dingen beschäftigte. Wenn ich von meinen Eltern, meinem Zuhause, ja selbst meiner Schule sprach. »Deine Eltern wollen dich nicht, die haben dich nicht lieb«, sagte er wieder und wieder. Ich weigerte mich, ihm zu glauben: »Das stimmt nicht, meine Eltern haben mich lieb. Das haben sie mir gesagt.« Ich wusste zwar in meinem tiefsten Inneren, dass ich recht hatte. Aber meine Eltern waren so unerreichbar, dass ich mich fühlte, als wäre ich auf einem anderen Planeten. Dabei lagen nur 18 Kilometer zwischen meinem Verlies und der Wohnung meiner Mutter. 25 Minuten Autofahrt.
    Eine Entfernung in der realen Welt, die in meiner verrückten Welt einem Wechsel der Dimension ausgesetzt war. Ich war so viel weiter weg als 18 Kilometer. Und mittendrin in der Welt des despotischen Herzkönigs, in der die Spielkartenleute jedes Mal zusammenzuckten, wenn seine Stimme erschallte.
    Wenn er anwesend war, bestimmte er über jede Geste und jeden Gesichtsausdruck: Ich musste so stehen, wie er es mir befahl, und durfte ihm niemals gerade ins Gesicht sehen. In seiner Anwesenheit, so fuhr er mich an, hätte ich den Blick gesenkt zu halten. Ich durfte nicht sprechen, wenn er mich nicht dazu aufgefordert hatte. Er zwang mich dazu, ihm unterwürfig zu begegnen, und wollte Dankbarkeit für jedes bisschen, das er für mich tat: »Ich habe dich gerettet«, sagte er immer wieder, und er schien es ernst zu meinen. Er war meine Nabelschnur nach außen - Licht, Essen, Bücher, all das konnte ich nur von ihm bekommen, all das konnte er mir jederzeit kappen. Und das tat er später auch mit einer Konsequenz, die mich fast an den Rand des Hungertods brachte.
    Aber auch wenn mich die dauernde Kontrolle und die Isolation zunehmend zermürbten: Dankbarkeit empfand ich ihm gegenüber nicht. Er hatte mich zwar nicht umgebracht und nicht vergewaltigt, wie ich es am Anfang befürchtet und fast erwartet hatte. Doch ich habe in keinem Augenblick vergessen, dass seine Tat ein Verbrechen war, für das ich ihn verurteilen konnte, wenn ich wollte - für das ich ihm aber niemals dankbar sein musste.
     
    Eines Tages befahl er mir, ihn »Maestro« zu nennen.
    Ich nahm ihn zunächst nicht ernst: »Maestro« erschien mir als Wort viel zu lächerlich,

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