3096 Tage
abmontierte. Stattdessen kam er mit einem Radio von Siemens ins Verlies. Er nahm das Innenleben aus dem Gehäuse und begann, daran herumzuschrauben. Ich wusste damals noch nichts vom Täter und habe erst viel später erfahren, dass Wolfgang Priklopil früher Nachrichtentechniker bei Siemens gewesen war. Dass er mit Alarmanlagen, Radios und anderen elektrischen Anlagen umgehen konnte, war mir indes nicht verborgen geblieben.
Dieses umgebaute Radio wurde zu einem schrecklichen Folterinstrument für mich. Es hatte ein Mikrofon, das so stark war, dass es jedes Geräusch aus meinem Zimmer nach oben übertrug. Der Täter konnte nun ohne Vorwarnung einfach in mein »Leben« hineinhören und in jeder Sekunde überprüfen, ob ich seinen Anweisungen folgte. Ob ich den Fernseher abgedreht hatte. Ob das Radio lief. Ob ich noch mit dem Löffel über den Teller kratzte. Ob ich atmete.
Seine Fragen verfolgten mich bis unter die Bettdecke:
»Hast du die Banane übriggelassen?«
»Warst du schon wieder so verfressen?«
»Hast du dein Gesicht gewaschen? »
»Hast du den Fernseher nach einer Folge abgedreht?«
Ich konnte ihn nicht einmal anlügen, weil ich nicht wusste, wie lange er schon gelauscht hatte. Wenn ich es doch einmal tat oder nicht sofort antwortete, tobte er aus dem Lautsprecher, bis in meinem Kopf alles hämmerte. Oder er kam unvermittelt ins Verlies und bestrafte mich, indem er mir das Wichtigste nahm: Bücher, Videos, Essen. Es sei denn, ich legte reuig Rechenschaft über meine Verfehlungen, über jeden noch so kleinen Moment meines Lebens im Verlies ab. Als ob es noch etwas gegeben hätte, das ich vor ihm hätte verbergen können.
Eine andere Möglichkeit, mich spüren zu lassen, dass er mich unter totaler Kontrolle hatte, war es, oben den Hörer hängen zu lassen. Dann kam zum Sirren des Ventilators ein verzerrtes, unerträglich lautes Rauschen, das mein Gefängnis restlos ausfüllte und mich bis in den letzten Winkel des winzigen Kellerraums spüren ließ: Er ist da. Immer. Er atmet am anderen Ende der Leitung. Er kann jederzeit losbrüllen, und du wirst zusammenzucken, auch wenn du in jeder Sekunde damit rechnest. Vor seiner Stimme gibt es kein Entrinnen.
Es wundert mich heute nicht, dass ich damals, als Kind, auch glaubte, dass er mich im Verlies sehen konnte. Ich wusste ja nicht, ob er Kameras eingebaut hatte. Ich fühlte mich nun in jeder Sekunde, bis in den Schlaf hinein, beobachtet. Vielleicht hatte er ja sogar eine Wärmebildkamera installiert, damit er mich auch kontrollieren konnte, während ich in völliger Dunkelheit auf meiner Liege lag. Das Gefühl lähmte mich, ich traute mich kaum noch, mich nachts umzudrehen. Tagsüber blickte ich mich zehnmal um, bevor ich auf die Toilette ging: Ich wusste ja nicht, ob er mich gerade beobachtete - und ob vielleicht auch andere dabei waren.
In völliger Panik begann ich, das ganze Verlies nach Gucklöchern oder Kameras abzusuchen. Immer in der Angst, er würde sehen, was ich tat, und gleich nach unten kommen.
Jede kleinste Ritze in den Wandbrettern füllte ich mit Zahnpasta, bis ich sicher war, dass es keine Lücke mehr gab. Doch das Gefühl der dauernden Beobachtung blieb.
* * *
»Ich glaube, dass nur wenige Menschen imstande sind, das unglaubliche Ausmaß von Folter und Agonie zu ermessen, die diese grausame Art der Behandlung, über Jahre gezogen, den Leidenden zufügt; und wenn ich selber darüber nur Vermutungen anstellen kann und darüber nachdenke, was ich in ihren Gesichtern gesehen habe, und was sie meines sicheren Wissens nach fühlen, bin ich umso mehr überzeugt, dass es sich um eine Tiefe schrecklichen Leidens handelt, die niemand als die Betroffenen selbst ermessen können, und die kein Mensch das Recht hat, einem Mitwesen anzutun. Ich halte diese langsame und tägliche Beeinflussung des Gehirns für unermesslich schlimmer als jede Folter des Körpers; und weil ihre grässlichen Spuren nicht so sichtbar für das Auge und nicht spürbar bei Berührung sind wie Folterspuren im Fleisch; weil die Wunden nicht auf der Oberfläche liegen und sie wenige Schreie hervorruft, die menschliche Ohren hören können; umso mehr klage ich sie deshalb an.«
Das schrieb der Schriftsteller Charles Dickens 1842 über die Isolationshaft, die damals in den USA Schule machte und bis heute eingesetzt wird. Meine Isolationshaft, die Zeit, die ich ausschließlich im Verlies verbrachte, ohne ein einziges Mal die fünf Quadratmeter Raum verlassen zu
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