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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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leben. Ich hielt dagegen: »Du bist es doch, der mich eingesperrt hat! Du hältst mich gefangen!« Aber es schien, als hätte er den Blick für diese Realität schon lange verloren. Und ein Stück weit zog er mich dabei mit.
    An seinen guten Tagen wurde dieses Bild, sein Bild, das zu meinem werden sollte, greifbar. An den schlechten wurde er unberechenbarer als je zuvor. Viel öfter als früher benutzte er mich als Fußabtreter für seine miesen Launen. Am schlimmsten waren die Nächte, in denen er nicht schlafen konnte, weil eine chronische Nasen-Nebenhöhlen-Entzündung ihn quälte. Wenn er nicht schlief, dann sollte ich auch nicht schlafen. Wenn ich in den Nächten im Verlies auf meinem Bett lag, dröhnte über Stunden seine Stimme durch den Lautsprecher. Er erzählte mir im Detail, was er den Tag über getan hatte, und verlangte von mir Auskunft über jeden Schritt, jedes gelesene Wort, jede Bewegung: »Hast du aufgeräumt? Wie hast du das Essen eingeteilt? Was hast du im Radio gehört?« Ich musste in aller Ausführlichkeit antworten, mitten in der Nacht, und wenn ich nichts zu erzählen hatte, etwas erfinden, um ihn zu beruhigen. In anderen Nächten quälte er mich einfach: »Gehorche! Gehorche! Gehorche!«, rief er monoton in die Gegensprechanlage. Die Stimme dröhnte durch den kleinen Raum und füllte ihn bis in den letzten Winkel aus: »Gehorche! Gehorche! Gehorche!« Ich konnte sie nicht ausblenden, selbst wenn ich den Kopf unter den Kissen verbarg. Sie war immer da. Und sie machte mich rasend. Ich konnte dieser Stimme nicht entfliehen. Sie signalisierte mir Tag und Nacht, dass er mich in seiner Gewalt hatte. Sie signalisierte mir Tag und Nacht, dass ich mich nicht aufgeben durfte. In klaren Momenten war der Drang, zu überleben und eines Tages zu fliehen, unglaublich stark. Im Alltag hatte ich kaum noch Kraft, diese Gedanken zu Ende zu denken.
     
    * *  *
     
    Das Rezept seiner Mutter lag auf dem Küchentisch, ich hatte es unzählige Male durchgelesen, damit mir kein Fehler unterlief: Die Eier trennen. Das Mehl mit Backpulver versieben. Das Eiweiß zu Schnee schlagen. Er stand hinter mir und beobachtete mich nervös.
    »Meine Mutter schlägt die Eier aber ganz anders auf!«
    »Meine Mutter macht das viel besser!«
    »Du bist viel zu ungeschickt, pass doch auf!«
    Etwas Mehl war auf die Arbeitsfläche geraten. Er brüllte und fuhr mich an, dass das alles viel zu langsam ginge. Seine Mutter würde einen Kuchen ... Ich bemühte mich nach Kräften, aber egal, was ich tat, es genügte ihm nicht. »Wenn deine Mutter das so viel besser kann, warum fragst du dann nicht sie, ob sie dir einen Kuchen backt?« Es war mir einfach so rausgerutscht. Und es war zu viel.
    Er schlug wie ein trotziges Kind um sich, fegte die Schüssel mit dem Teig auf den Boden und stieß mich gegen den Küchentisch. Dann zerrte er mich in den Keller und sperrte mich ein. Es war helllichter Tag, aber er gönnte mir kein Licht. Er wusste, wie er mich foltern konnte.
    Ich legte mich auf mein Bett und wiegte mich leise hin und her. Ich konnte nicht weinen und mich auch nicht wegträumen. Bei jeder Bewegung schrie in mir der Schmerz aus den Prellungen und den Blutergüssen. Aber ich blieb stumm und lag einfach nur da, in der absoluten Dunkelheit, als wäre ich aus Raum und Zeit gefallen.
    Der Täter kam nicht wieder. Der Wecker tickte leise und versicherte mir, dass die Zeit nicht stehengeblieben war. Ich muss zwischendurch geschlafen haben, erinnern konnte ich mich nicht daran. Alles ging ineinander über, Träume wurden zu Delirien, in denen ich mich mit jungen Leuten in meinem Alter am Meer entlanglaufen sah. Das Licht in meinem Traum war gleißend hell, das Wasser tiefblau. Ich flog mit einem Drachen über das Wasser, der Wind spielte in meinen Haaren, die Sonne brannte auf meinen Armen. Es war ein Gefühl der absoluten Entgrenzung, berauscht vom Gefühl zu leben. Ich phantasierte mich auf eine Bühne, meine Eltern saßen im Publikum und ich sang aus voller Kehle ein Lied. Meine Mutter applaudierte, sprang auf und umarmte mich. Ich trug ein herrliches Kleid aus schimmerndem Stoff, leicht und zart. Ich fühlte mich schön, stark, heil.
    Als ich aufwachte, war es immer noch dunkel. Der Wecker tickte monoton. Er war das einzige Zeichen, dass die Zeit nicht stehengeblieben war. Es blieb dunkel - den ganzen Tag über.
    Der Täter kam nicht am Abend, und er kam auch nicht am nächsten Morgen. Ich hatte Hunger, mein Magen knurrte, langsam bekam

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