3096 Tage
stürzte mich auf den Boden, um die Reste aufzuklauben, die während unseres Gerangeis hinuntergefallen waren. Es gelang mir, einen winzigen Bissen in den Mund zu stecken. Aber sofort fuhr mir seine Hand an die Gurgel, er zog mich hoch, schleppte mich zum Waschbecken und drückte meinen Kopf hinunter. Mit der anderen Hand presste er meine Zähne auseinander und würgte mich so lange, bis der unerlaubte Bissen wieder hochkam. »Das wird dir eine Lehre sein.« Dann nahm er langsam die Platte vom Tisch und brachte sie in den Vorraum. Ich stand zitternd vor der Küchenzeile, gedemütigt und hilflos.
Mit solchen Methoden hielt mich der Täter schwach - und in einer Mischung aus Abhängigkeit und Dankbarkeit gefangen. Man beißt die Hand nicht, die einen füttert. Für mich gab es nur eine einzige Hand, die mich vor dem Hungertod bewahren konnte. Es war die Hand desselben Mannes, der mich systematisch dorthin trieb. So erschienen mir die kleinen Essensrationen manchmal wie großzügige Geschenke. Ich erinnere mich so lebhaft an den Wurstsalat, den seine Mutter am Wochenende ab und an zubereitete, dass er mir noch heute als Delikatesse erscheint. Wenn ich nach zwei oder drei Tagen im Verlies wieder nach oben durfte, gab er mir manchmal ein kleines Schälchen davon. Meistens schwammen nur noch die Zwiebeln und ein paar Tomatenstücke in der Marinade - die Wurst und die hartgekochten Eier fischte er vorher heraus. Aber mir erschienen diese Reste wie ein Festmahl. Wenn er mir einen zusätzlichen Bissen von seinem Teller oder gar ein Stück Kuchen gab, war ich überglücklich. Es ist so einfach, einen Menschen an sich zu binden, den man hungern lässt.
* * *
Am1. März 2004 begann in Belgien der Prozess gegen den Serienmörder Marc Dutroux. Sein Fall war mir noch aus meiner Kindheit in lebhafter Erinnerung. Ich war acht Jahre alt, als die Polizei im August 1996 sein Haus stürmte und zwei Mädchen befreite - die zwölfjährige Sabine Dardenne und die 14-jährige Laetitia Delhez. Vier weitere Mädchen waren tot aufgefunden worden.
Über Monate verfolgte ich im Radio und im Fernsehen die Nachrichten über den Prozess. Ich erfuhr vom Martyrium Sabine Dardennes und litt mit, als sie im Gerichtssaal dem Täter gegenüberstand. Auch sie war auf dem Schulweg in einen Kastenwagen gezerrt und entführt worden. Das Kellerverlies, in dem sie eingesperrt war, war noch etwas kleiner als meines, und auch ihre Geschichte während der Gefangenschaft war eine andere. Sie hatte tatsächlich den Alptraum erlebt, mit dem der Täter mir gedroht hatte. Auch wenn es gravierende Unterschiede gab: Das Verbrechen, das zwei Jahre vor meiner eigenen Entführung aufgeflogen war, hätte durchaus eine Blaupause für den kranken Plan Wolfgang Priklopils sein können. Beweise dafür gibt es allerdings nicht.
Der Prozess wühlte mich auf, auch wenn ich mich in Sabine Dardenne nicht wiederfand. Sie war nach achtzig Tagen Gefangenschaft befreit worden. Sie war noch wütend und wusste, dass sie im Recht war. Sie nannte den Täter »Monster« und »Dreckskerl« und forderte eine Entschuldigung, die sie damals, vor Gericht, nicht bekam. Sabine Dardennes Gefangenschaft war kurz genug gewesen, um sich nicht selbst zu verlieren. Ich hingegen war zu diesem Zeitpunkt bereits 2200 lange Tage und Nächte gefangen, meine Wahrnehmung hatte sich längst verschoben. Ich wusste intellektuell durchaus, dass ich das Opfer eines Verbrechens war. Aber emotional hatte ich durch den langen Kontakt zum Täter, den ich zum Überleben brauchte, dessen psychopathische Phantasien längst verinnerlicht. Sie waren meine Realität.
Ich lernte zwei Dinge aus diesem Prozess: erstens, dass man Opfern von Gewaltverbrechen nicht immer Glauben schenkt. Die ganze Gesellschaft in Belgien schien davon überzeugt, dass ein großes Netzwerk hinter Marc Dutroux steckte - ein Netzwerk, das sich bis in höchste Kreise zog. Ich hörte im Radio, welchen Schmähungen Sabine Dardenne ausgesetzt war, weil sie diesen Theorien keinen Zündstoff gab, sondern immer darauf bestand, außer Dutroux selbst niemanden gesehen zu haben. Und zweitens, dass Mitleid und Empathie den Opfern nicht unbegrenzt entgegengebracht werden. Sondern schnell in Aggression und Ablehnung übergehen können.
Etwa zur selben Zeit hörte ich zum ersten Mal meinen eigenen Namen im Radio. Ich hatte eine Sachbuchsendung des Kultursenders Ol angeschaltet, als ich plötzlich zusammenzuckte: »Natascha Kampusch«. Seit sechs
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