3096 Tage
und Kuchen, zum Greifen nah. Eine Fata Morgana. Krämpfe, die den ganzen Körper schütteln, die sich anfühlen, als würde sich der Magen selbst verzehren. Die Schmerzen, die Hunger verursachen kann, sind unerträglich. Man weiß das nicht, wenn man unter Hunger nur leichtes Magenknurren versteht. Ich wünschte, ich hätte diese Krämpfe nie kennengelernt. Schließlich kommt die Schwäche. Man kann kaum mehr den Arm heben, der Kreislauf versagt, und wenn man aufsteht, wird einem schwarz vor Augen und man kippt um.
Mein Körper zeigte deutliche Spuren des Essens- und Lichtentzugs. Ich war nur noch Haut und Knochen, auf den Waden zeichneten sich schwarz-blaue Flecken auf meiner weißen Haut ab. Ich weiß nicht, ob sie vom Hunger oder von den langen Zeiten ohne Licht kamen - doch sie sahen beunruhigend aus, wie Leichenflecken.
Wenn er mich über längere Zeit hungern ließ, päppelte mich der Täter danach langsam wieder auf, bis ich so weit bei Kräften war, dass ich arbeiten konnte. Es dauerte, weil ich nach einer längeren Hungerphase nur löffelweise Nahrung zu mir nehmen konnte. Ich ekelte mich schon vor dem Geruch von Essen, obwohl ich tagelang von nichts anderem phantasiert hatte. Wenn ich ihm dann wieder »zu stark« wurde, begann er erneut mit dem Essensentzug. Priklopil setzte das Hungern ganz gezielt ein: »Du bist viel zu aufmüpfig, du hast zu viel Energie«, sagte er manchmal, bevor er mir den letzten Bissen meiner winzigen Mahlzeiten wegnahm. Zugleich verstärkte sich seine eigene Essstörung, die er auf mich mit übertrug. Seine zwanghaften Versuche, gesund zu essen, nahmen absurde Formen an. »Wir trinken jeden Tag ein Glas Wein als Vorbeugung gegen Herzinfarkt«, verkündete er eines Tages. Ab da musste ich einmal am Tag Rotwein trinken. Es ging nur um ein paar Schlucke, doch der Geschmack ekelte mich an, ich würgte den Wein hinunter wie eine bittere Medizin. Auch er mochte Wein nicht, zwang sich aber, ein kleines Glas zum Essen zu trinken. Es ging ihm nie um Genuss, sondern nur darum, wieder eine neue Regel aufzustellen, die er - und damit auch ich - strikt einzuhalten hatte.
Als Nächstes erklärte er Kohlenhydrate zum Feind: »Wir halten jetzt eine ketogene Diät.« Zucker, Brot, selbst Obst war nun verboten, ich bekam nur noch fette und eiweißreiche Nahrung vorgesetzt. Obwohl nur in winzigen Portionen, vertrug mein ausgezehrter Körper diese Behandlung immer schlechter. Vor allem, wenn ich tagelang ohne Nahrung im Verlies eingesperrt war und, wieder oben, fettes Fleisch und ein Ei bekam. Wenn ich mit dem Täter aß, schlang ich meine Portion, so schnell es ging, hinunter. War ich früher fertig als er, konnte ich vielleicht darauf hoffen, dass er mir noch einen Bissen abgab, denn es war ihm unangenehm, wenn ich ihm beim Essen zusah.
Am schlimmsten war es für mich, wenn ich völlig ausgehungert kochen musste. Eines Tages legte er mir ein Rezept seiner Mutter und eine Packung mit Kabeljaustücken auf die Küchenplatte. Ich schälte die Kartoffeln, bemehlte den Kabeljau, trennte Eier und zog die Fischstücke durch das Eigelb. Dann erhitzte ich ein wenig Ol in einer Pfanne, wälzte den Fisch in Semmelbrösel und briet ihn an. Wie immer saß er in der Küche und kommentierte meine Handgriffe:
»Meine Mutter macht das zehnmal schneller.«
»Du siehst doch, dass das Ol viel zu heiß wird, du dumme Kuh.«
»Schäl nicht so viel von den Kartoffeln ab, das ist Verschwendung.«
Der Duft des gebratenen Fisches zog durch die Küche und machte mich halb wahnsinnig. Ich hob die Stücke aus der Pfanne und ließ sie auf Küchenpapier abtropfen. Das Wasser lief mir im Mund zusammen: Es war genug Fisch für ein wahres Festmahl da. Vielleicht könnte ich zwei Stücke essen? Und noch etwas Kartoffeln dazu?
Ich weiß nicht mehr, was genau ich in diesem Moment falsch machte. Ich weiß nur noch, dass Priklopil plötzlich aufsprang, mir die Platte, die ich gerade auf den Küchentisch stellen wollte, aus der Hand riss und mich barsch anfuhr: »Du bekommst heute gar nichts!«
In diesem Augenblick verlor ich die Fassung. Ich war so hungrig, dass ich für ein Stück Fisch hätte morden können. Mit der Hand griff ich auf die Platte, nahm mir ein Stück Fisch und versuchte, es mir hastig in den Mund zu stopfen. Doch er war schneller und schlug mir den Fisch aus der Hand. Ich versuchte, ein zweites Stück zu schnappen, aber er fing mein Handgelenk ab und drückte so lange zu, bis ich es fallen lassen musste. Ich
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