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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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ich Krämpfe. Ich hatte etwas Wasser im Verlies, das war alles. Aber das Trinken half nicht mehr. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an Essen. Ich hätte alles getan für ein Stück Brot.
    Im Laufe des Tages verlor ich zunehmend die Kontrolle über meinen Körper, über meine Gedanken. Die Schmerzen in meinem Bauch, die Schwäche, die Gewissheit, dass ich den Bogen überspannt hatte und er mich nun elendig verrecken lassen würde. Ich fühlte mich wie an Bord der sinkenden Titanic. Das Licht war schon ausgefallen, das Schiff neigte sich langsam, aber unaufhaltsam zur Seite. Es gab kein Entrinnen mehr, ich spürte, wie das kalte, dunkle Wasser höher stieg. Ich spürte es an den Beinen, am Rücken, es schwappte mir über die Arme, umschloss meinen Brustkorb. Höher, immer höher ... Da! Ein gleißender Lichtstrahl blendete mein Gesicht, ich hörte, wie etwas mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel. Dann eine Stimme: »Da hast du was.« Dann fiel eine Tür ins Schloss. Es war wieder stockfinster.
    Benommen hob ich den Kopf. Ich war schweißgebadet und wusste nicht, wo ich war. Das Wasser, das mich in die Tiefe ziehen wollte, war weg. Aber alles schwankte. Ich schwankte. Und unter mir war nichts, ein schwarzes Nichts, das meine Hand immer wieder ins Leere greifen ließ. Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Vorstellung gefangen war, bis ich realisierte, dass ich in meinem Hochbett im Verlies lag. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich die Kraft hatte, nach der Leiter zu tasten, und rückwärts hinunterkletterte, Sprosse für Sprosse. Als ich am Boden angelangt war, kroch ich auf allen vieren vorwärts. Meine Hand stieß an einen kleinen Sack aus Plastik. Ich riss ihn gierig und mit zitternden Fingern auf, so ungeschickt, dass der Inhalt herausfiel und über den Boden rollte. Ich tastete panisch umher, bis ich etwas Längliches, Kühles unter meinen Fingern spürte. Eine Karotte? Ich wischte das Etwas mit der Hand ab und biss hinein. Er hatte mir eine Tüte Karotten ins Verlies geworfen. Auf den Knien rutschte ich über den eiskalten Boden, bis ich alle ertastet hatte. Dann trug ich sie einzeln nach oben in mein Hochbett. Das Hinaufklettern der Leiter erschien mir jedesmal wie die Besteigung eines gewaltigen Berges - aber es brachte meinen Kreislauf in Gang. Schließlich verschlang ich die Karotten, eine nach der anderen. Mein Magen rumpelte laut und krampfte sich zusammen. Die Schmerzen waren entsetzlich.
    Erst nach zwei Tagen holte mich der Täter wieder nach oben. Schon auf der Treppe in die Garage musste ich die Augen schließen, so sehr blendete mich die dämmrige Helligkeit. Ich atmete tief ein, in der Gewissheit, wieder einmal überlebt zu haben.
     
    * *  *
     
    »Wirst du jetzt brav sein?«, fragte er mich, als wir oben angekommen waren. »Du musst dich bessern, sonst muss ich dich wieder einsperren.« Ich war viel zu schwach, um ihm zu widersprechen. Am nächsten Tag sah ich, dass sich die Haut an der Innenseite meiner Oberschenkel und am Bauch gelb gefärbt hatte. Das Betacarotin der Karotten hatte sich in den letzten winzigen Fettschichten unter meiner durchsichtig weißen Haut abgelagert. Ich wog nur noch 38 Kilo, war 16 Jahre alt und einen Meter siebenundfünfzig groß.
    Das tägliche Wiegen war mir in Fleisch und Blut übergegangen, und ich beobachtete, wie sich der Zeiger Tag für Tag nach unten bewegte. Der Täter hatte jedes Maß verloren und hielt mir immer noch vor, ich sei viel zu dick. Und ich glaubte ihm. Heute weiß ich, dass mein Body-Mass-Index damals 14,8 betrug. Die Weltgesundheitsorganisation hat einen Body-Mass-Index von 15 als Schwelle zu einem drohenden Hungertod festgesetzt. Ich lag damals darunter.
    Hunger ist eine absolute Grenzerfahrung. Am Anfang fühlt man sich noch gut: Wenn die Nahrungszufuhr abgeschnitten wird, putscht sich der Körper selbst auf. Adrenalin strömt ins System. Man fühlt sich plötzlich besser, voller Energie. Es ist wohl ein Mechanismus, mit dem der Körper signalisieren will: Ich habe noch Reserven, du kannst sie für die Suche nach Nahrung einsetzen. Eingesperrt unter der Erde findet man keine Nahrung, die Adrenalinschübe laufen ins Leere. Dann kommen Magenknurren und das Phantasieren von Essen dazu. Die Gedanken kreisen nur noch um den nächsten Bissen. Später verliert man den Bezug zur Realität, gleitet ab ins Delirium. Man träumt nicht mehr, sondern wechselt einfach die Welt. Man sieht Büffets, große Teller mit Spaghetti, Torten

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