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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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Passivität machte ihn rasend. Er hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Es muss ihm damals endgültig klargeworden sein, dass er nicht nur mein Leben an seins, sondern auch sein Leben an meins gekettet hatte. Und dass jeder Versuch, diese Ketten zu lösen, für einen von uns tödlich enden würde.
    Wolfgang Priklopil wurde von Woche zu Woche fahriger, seine Paranoia nahm zu. Er beobachtete mich argwöhnisch, immer darauf vorbereitet, dass ich ihn angreifen oder fliehen könnte. Abends verfiel er in regelrechte Angstzustände, holte mich in sein Bett, fesselte mich an sich und versuchte, sich durch Körperwärme zu beruhigen. Doch seine Launenhaftigkeit nahm weiter zu, und ich war der Adressat jeder seiner Gefühlsschwankungen. Auf der einen Seite begann er nun, von einem »gemeinsamen Leben« zu sprechen. Viel öfter als in den Jahren zuvor informierte er mich über seine Entscheidungen und sprach mit mir über seine Probleme. Die Tatsache, dass ich seine Gefangene war und er jede meiner Bewegungen kontrollierte, schien er in seiner Sehnsucht nach einer heilen Welt kaum noch wahrzunehmen. Wenn ich ihm eines Tages ganz gehören würde - wenn er sicher sein könnte, dass ich nicht doch fliehen würde -, dann könnten wir beide ein besseres Leben führen, erklärte er mir immer mit glänzenden Augen.
    Wie dieses bessere Leben aussehen sollte, davon hatte er diffuse Vorstellungen. Seine Rolle war dabei klar definiert: Er sah sich in jeder Version als Herrscher im Haus, für mich hatte er verschiedene Rollen reserviert. Mal die Hausfrau und Arbeitssklavin, die ihm alle Arbeiten von Hausbau bis Kochen und Putzen abnahm. Mal die Gefährtin, an die er sich anlehnen konnte, mal der Mutterersatz, der Mülleimer für seelische Befindlichkeiten, der Sandsack, in den er die Wut über seine Ohnmacht in der Wirklichkeit prügeln konnte. Was sich nie änderte, war seine Vorstellung, dass ich voll und ganz verfügbar sein müsste. Eine eigene Persönlichkeit, eigene Bedürfnisse oder gar kleine Freiheiten kamen im Drehbuch dieses »gemeinsamen Lebens« nicht vor.
    Ich reagierte gespalten auf seine Träume. Sie erschienen mir einerseits zutiefst abwegig - niemand kann sich bei klarem Verstand ein gemeinsames Leben mit einer Person ausmalen, die er entfuhrt und jahrelang misshandelt und eingesperrt hat. Zugleich aber begann diese ferne schöne Welt, die er mir ausmalte, sich in meinem Unterbewusstsein zu verankern. Ich hatte eine übermächtige Sehnsucht nach Normalität. Ich wollte Menschen treffen, das Haus verlassen, einkaufen, schwimmen gehen. Die Sonne sehen, wann ich wollte. Mit jemandem sprechen, egal woüber. Dieses gemeinsame Leben in der Vorstellung des Täters, in dem er mir kleine Bewegungsfreiheiten einräumen würde, in dem ich das Haus unter seiner Aufsicht verlassen könnte, schien mir an manchen Tagen wie das Maximum, das mir in diesem Leben vergönnt sein würde. Freiheit, wahre Freiheit, konnte ich mir nach all den Jahren kaum noch vorstellen. Ich hatte Angst davor, den gesteckten Rahmen zu verlassen. Innerhalb dieses Rahmens hatte ich gelernt, die ganze Klaviatur und jede Tonart zu spielen. Den Klang der Freiheit hatte ich vergessen.
    Ich fühlte mich wie ein Soldat, dem man erklärt, dass nach dem Krieg alles gut wird. Macht nichts, dass er zwischendurch ein Bein eingebüßt hat, das gehört einfach dazu. Für mich war es mit der Zeit zu einer unumstößlichen Wahrheit geworden, dass ich erst leiden musste, bevor das »bessere Leben« würde beginnen können. Das bessere Leben in der Gefangenschaft. Du kannst so froh sein, dass ich dich gefunden habe, du könntest draußen doch überhaupt nicht leben. Wer würde dich schon wollen. Du musst mir dankbar sein, dass ich dich aufgenommen habe. Mein Krieg fand im Kopf statt. Und der hatte diese Sätze aufgesogen wie ein Schwamm.
    Doch selbst diese gelockerte Form der Gefangenschaft, die sich der Täter ausmalte, lag an den meisten Tagen in weiter Ferne. Er gab mir die Schuld daran. An einem Abend am Küchentisch seufzte er: »Wenn du nicht so trotzig wärst, könnten wir es viel schöner haben. Wenn ich sicher sein könnte, dass du nicht wegläufst, müsste ich dich nicht einsperren und fesseln.«
    Je älter ich wurde, umso stärker übertrug er mir die ganze Verantwortung für meine Gefangenschaft. Es läge nur an mir, dass er mich schlagen und wegsperren müsste - wenn ich besser kooperieren würde, demütiger und folgsamer wäre, dann könnte ich mit ihm oben im Haus

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