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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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»Arbeiterstrich« an den Ausfallstraßen abholten und dort am Abend wieder ausspuckten. Ich fühlte mich mit einem Mal wie diese Tagelöhner: keine Papiere, keine Arbeitserlaubnis, total ausbeutbar. Das war die Realität, die ich an diesem Morgen nicht ertrug. Ich ließ mich tief in den Sitz sinken und gab mich einem Tagtraum hin. Ich bin mit meinem Chef auf dem Weg zu einer normalen, geregelten Arbeit - wie alle anderen Pendler in ihren Autos neben uns. Ich bin eine Expertin auf meinem Gebiet, und mein Vorgesetzter legt großen Wert auf meinen Rat. Ich lebe in einer erwachsenen Welt, in der ich eine Stimme habe, die gehört wird.
     
    * *  *
     
    Wir hatten fast die ganze Stadt durchquert, als Priklopil beim Westbahnhof stadtauswärts die Mariahilferstraße nahm, dann an einem kleinen Markt entlangrollte, auf dem nur die Hälfte der Stände besetzt war, und schließlich in eine enge Gasse einbog. Dort parkte er den Wagen.
    Die Wohnung lag im ersten Stock eines heruntergekommenen Hauses. Der Täter wartete lange, bis er mich aussteigen ließ. Er fürchtete, dass uns jemand sehen könnte, und wollte mich nur über den Gehsteig huschen lassen, wenn die Straße menschenleer war. Ich ließ meinen Blick durch die Gasse streifen: Kleine Autowerkstätten, türkische Gemüseläden, Kebab-Buden und zwielichtige, winzige Bars unterbrachen das Bild der grauen Altbauten aus der Gründerzeit, die schon im 19. Jahrhundert als Mietskasernen für die Massen der armen Arbeiter aus den Kronländern dienten. Auch jetzt war das Viertel vor allem von Migranten bewohnt. Viele der Wohnungen hatten immer noch kein Badezimmer, die Toiletten befanden sich auf dem Gang und mussten mit den Nachbarn geteilt werden. Eine dieser Wohnungen hatte der Täter gekauft.
    Er wartete, bis die Straße frei war, dann scheuchte er mich ins Stiegenhaus. Die Farbe blätterte von den Wänden, die meisten Briefkästen waren aufgebogen. Als er die Holztür zur Wohnung aufsperrte und mich hineinschubste, konnte ich kaum glauben, wie winzig sie war. 19 Quadratmeter - gerade vier Mal so groß wie mein Verlies: ein Zimmer mit einem Fenster, das hinten auf den Hof hinausging. Die Luft roch abgestanden, nach menschlichen Ausdünstungen, Moder und altem Fett. Der Teppichboden, der wohl einmal dunkelgrün gewesen war, hatte eine undefinierbare graubraune Farbe angenommen. An einer Wand war ein großer, feuchter Fleck, auf dem sich Maden tummelten. Ich atmete tief durch. Hier wartete schwere Arbeit.
    Von diesem Tag an nahm er mich mehrmals die Woche in die Hollergasse mit. Nur wenn er größere Besorgungen zu erledigen hatte, ließ er mich den Tag über im Verlies eingesperrt. Wir schleppten als Erstes die alten, zerschlissenen Möbel aus der Wohnung und stellten sie auf die Straße. Als wir eine Stunde später aus dem Haus traten, waren sie weg: mitgenommen von Nachbarn, die so wenig hatten, dass ihnen selbst diese Möbel noch gut genug waren. Dann begannen wir mit der Renovierung. Zwei Tage brauchte ich allein dafür, den alten Teppich herauszureißen. Unter einer dicken Schmutzschicht kam unter dem ersten ein zweiter zum Vorschein, dessen Kleber sich im Laufe der Jahre so fest mit dem Untergrund verbunden hatte, dass ich ihn zentimeterweise abschaben musste. Anschließend trugen wir neuen Estrich auf, daraufkam ein Laminatboden - der gleiche wie in meinem Verlies. Wir rissen die alten Tapeten von den Wänden, glätteten die Fugen und Löcher und klebten neue Bahnen auf, die weiß gestrichen wurden. In den kleinen Raum bauten wir einen Miniatur-Küchenblock und ein winziges Bad ein, kaum größer als die Duschwanne und die neue Matte davor.
    Ich schuftete wie ein Schwerarbeiter. Stemmen, tragen, schleifen, spachteln, Fliesen schleppen. Auf einem schmalen Brett, das zwischen zwei Leitern schwankte, stehend die Decke tapezieren. Möbel wuchten. Die Arbeit, der Hunger und der ständige Kampf mit meiner Kreislaufschwäche nahmen mich so in Anspruch, dass jeder Fluchtgedanke in weite Ferne rückte. Am Anfang hatte ich noch auf einen Moment gehofft, in dem mich der Täter allein lassen würde. Doch es gab keinen. Ich stand unter ständiger Beobachtung. Ich staunte fast, welchen Aufwand er betrieb, um mich an einer Flucht zu hindern. Wenn er zur Toilette ins Treppenhaus ging, schob er schwere Bretter und Balken vor das Fenster, damit ich es nicht schnell öffnen und schreien könnte. Wenn er wusste, dass er mehr als fünf Minuten draußen sein würde, verschraubte er die

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