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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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Bretter sogar. Selbst hier baute er mir ein Gefängnis. Wenn sich der Schlüssel im Schloss drehte, wurde ich innerlich sofort zurück ins Verlies versetzt. Die Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte und ich in dieser Wohnung sterben müsste, packte mich auch hier. Ich atmete jedes Mal erleichtert auf, wenn er zurückkam.
    Heute kommt mir diese Angst seltsam vor. Ich befand mich ja in einem Wohnhaus und hätte schreien oder an die Wände klopfen können. Anders als im Keller des Täters hätte man mich hier sicher schnell gefunden. Meine Angst war rational nicht wirklich zu begründen, sie kroch aus meinem Inneren nach oben, direkt aus dem Verlies in mir.
     
    * *  *
     
    Eines Tages stand plötzlich ein fremder Mann in der Wohnung.
    Wir hatten gerade das Laminat für den Boden in den ersten Stock geschleppt, die Tür war nur angelehnt, als ein älterer Mann mit graumelierten Haaren in den Vorraum trat und lautstark grüßte. Sein Deutsch war so schlecht, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Er hieß uns im Haus willkommen und wollte offenbar ein nachbarschaftliches Gespräch über das "Wetter und die Renovierungsarbeiten beginnen. Priklopil schob mich hinter sich und wimmelte ihn mit dürren Worten ab. Ich spürte die Panik, die in ihm hochstieg, und ließ mich davon anstecken. Obwohl dieser Mann meine Rettung hätte sein können, fühlte ich mich von seiner Anwesenheit fast belästigt, so sehr hatte ich die Perspektive des Täters schon internalisiert.
    Am Abend lag ich in meinem Verlies auf dem Hochbett und ließ die Szene immer wieder in meinem Kopf abspulen. Hatte ich falsch gehandelt? Hätte ich schreien sollen? Hatte ich wieder die entscheidende Chance verpasst? Ich musste versuchen, mich selbst darauf zu trimmen, das nächste Mal entschlossen zu handeln. In meinen Gedanken stellte ich mir den Weg von meinem Platz hinter dem Täter bis zu dem fremden Nachbarn wie einen Sprung über einen gähnenden Abgrund vor. Ich konnte genau vor mir sehen, wie ich Anlauf nahm, auf den Rand des Abgrunds zurannte und lossprang. Aber sosehr ich mich bemühte, ein Bild konnte ich nicht entstehen lassen. Ich sah mich nie auf der anderen Seite landen. Selbst in meiner Phantasie erwischte mich der Täter wieder und wieder an meinem T-Shirt und riss mich zurück. Die wenigen Male, in denen sein Griff mich verfehlte, blieb ich sekundenlang über dem Abgrund in der Luft stehen, bevor ich ins Bodenlose stürzte. Es war ein Bild, das mich die ganze Nacht quälte. Ein Symbol dafür, dass ich ganz dicht davorstand, aber im entscheidenden Moment doch wieder versagen würde.
    Es dauerte nur ein paar Tage, bis uns der Nachbar wieder ansprach. Diesmal hatte er einen Stapel Fotos in der Hand. Der Täter schob mich sofort unauffällig zur Seite, aber ich konnte einen kurzen Blick erhaschen. Es waren Familienfotos, die ihn in seiner alten Heimat Jugoslawien zeigten, und ein Gruppenbild mit einer Fußballmannschaft. Während er Priklopil die Bilder unter die Nase hielt, redete der Nachbar unablässig. Wieder verstand ich nur einzelne Wortfetzen. Nein, es war unmöglich, über den Abgrund zu springen. Wie sollte ich mich diesem freundlichen Mann nur verständlich machen? Würde er verstehen, was ich ihm in einem unbeobachteten Moment zuflüsterte, den es wahrscheinlich ohnehin nicht geben würde? Natascha wer? Wer ist entführt? Selbst wenn er mich verstehen würde, was käme dann? Würde er die Polizei rufen? Hatte er überhaupt ein Telefon? Und dann? Die Polizei würde ihm wohl kaum glauben. Selbst wenn sich ein Streifenwagen auf den Weg in die Hollergasse machte, dem Täter wäre bei weitem genug Zeit geblieben, mich zu packen und unauffällig ins Auto zu verfrachten. Was danach kommen würde, mochte ich mir gar nicht vorstellen.
    Nein, dieses Haus würde mir keine Chance zur Flucht bieten. Aber sie würde kommen, davon war ich überzeugt wie nie zuvor. Ich musste sie nur rechtzeitig erkennen.
     
    * *  *
     
    Der Täter spürte in diesem Frühling des Jahres 2006, dass ich versuchte, mich ihm zu entziehen. Er war unbeherrscht und cholerisch, seine chronische Nebenhöhlenentzündung quälte ihn vor allem nachts. Tagsüber verstärkte er seine Bemühungen, mich zu unterdrücken. Sie wurden immer absurder. »Red nicht zurück!«, fauchte er, sobald ich den Mund aufmachte, selbst wenn er mich etwas gefragt hatte. Er verlangte absoluten Gehorsam. »Was ist das für eine Farbe?«, herrschte er mich einmal an und deutete auf einen schwarzen

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