3096 Tage
außen nicht zu finden. Die Szene stand mir lebhaft vor Augen: Wie ich nach ein paar Tagen begreifen würde, dass der Täter verschwunden war. Wie ich in meinem Zimmer Amok laufen und wie mich Todesangst packen würde. Wie es mir mit letzter Kraft vielleicht noch gelingen würde, die beiden Holztüren einzutreten. Aber diese Betontüre würde über Leben und Tod entscheiden. Vor ihr liegend würde ich verhungern und verdursten. Es war jedes Mal eine Erleichterung, wenn ich hinter dem Täter durch den engen Durchlass schlüpfte. Wieder war ein Morgen angebrochen, an dem er diese Tür geöffnet, an dem er mich nicht im Stich gelassen hatte. Wieder war ich für einen Tag meinem unterirdischen Grab entkommen. Als ich die Stufen in die Garage hinaufging, sog ich die Luft tief in meine Lungen. Ich war oben.
Der Täter befahl mir, in der Küche zwei Marmeladenbrote für ihn zu schmieren. Ich sah mit knurrendem Magen zu, wie er genüsslich hineinbiss. Seine Zähne hinterließen kleine Abdrücke. Köstliches, knuspriges Brot mit Butter und Marillenmarmelade. Ich bekam nichts davon - ich hatte ja schließlich meinen Kuchen gehabt. Ich hätte mich niemals getraut, ihm zu sagen, dass ich das dürre Stück schon am Abend zuvor gegessen hatte.
Nach Priklopils Frühstück erledigte ich den Abwasch und ging zum Abrisskalender in der Küche. Wie jeden Morgen trennte ich den Zettel mit den fettgedruckten Ziffern ab und faltete ihn klein zusammen. Ich starrte lange auf das neue Datum: 23. August 2006. Es war der 3096. Tag meiner Gefangenschaft.
* * *
Wolfgang Priklopil war an diesem Tag guter Laune. Es sollte der Beginn einer neuen Ära werden, der Anbruch einer leichteren Zeit ohne Geldsorgen. An diesem Vormittag sollten dazu zwei entscheidende Schritte folgen. Erstens wollte er den alten Lieferwagen, in dem er mich achteinhalb Jahre zuvor entführt hatte, loswerden. Und zweitens hatte er im Internet eine Anzeige für die Wohnung geschaltet, die wir in den letzten Monaten renoviert hatten. Er hatte sie ein halbes Jahr zuvor gekauft, in der Hoffnung, die Mieteinnahmen würden den dauerhaften finanziellen Druck mindern, den sein Verbrechen für ihn bedeutete. Das Geld dafür, so erzählte er mir, stamme aus seiner Firmentätigkeit mit Holzapfel.
Es war kurz nach meinem 18. Geburtstag gewesen, als er mir eines Morgens aufgeregt eröffnete: »Es gibt eine neue Baustelle. Wir fahren gleich in die Hollergasse.« Seine Freude war ansteckend, und ich hatte Abwechslung dringend nötig. Der magische Tag meines Erwachsenwerdens war verstrichen, und es hatte sich kaum etwas geändert. Ich war genauso unterdrückt und kontrolliert wie all die Jahre zuvor. Nur in mir hatte sich ein Schalter umgelegt. Meine Unsicherheit, ob der Täter nicht doch recht hatte und ich in seiner Obhut besser aufgehoben war als draußen, verschwand langsam. Ich war nun erwachsen, mein zweites Ich hielt mich fest an der Hand, und ich wusste genau: So wollte ich nicht weiterleben. Ich hatte die Zeit meiner Jugend als Sklavin, Punchingball, Putzfrau und Gefährtin des Entführers überlebt und mich in dieser Welt eingerichtet, solange es nicht anders ging. Aber nun war diese Zeit vorüber. Wenn ich in meinem Verlies war, rief ich mir immer wieder all die Pläne ins Gedächtnis, die ich als Kind für diese Zeit geschmiedet hatte. Ich wollte selbständig sein. Schauspielerin werden, Bücher schreiben, Musik machen, andere Menschen erleben, frei sein. Ich wollte nicht mehr länger akzeptieren, dass ich auf ewig eine Gefangene seiner Phantasie sein sollte. Ich musste nur noch auf die richtige Gelegenheit warten. Vielleicht würde die neue Baustelle sie bringen. Nach den vielen Jahren, die ich ans Haus gekettet war, durfte ich erstmals an einem anderen Ort arbeiten. Unter strenger Aufsicht des Täters zwar, aber immerhin.
Ich erinnere mich noch genau an unsere erste Fahrt in die Hollergasse. Der Täter nahm nicht den schnellsten Weg über die Stadtautobahn - er war zu geizig, um die Gebühr dafür zu bezahlen. Stattdessen reihte er sich mitten in den Stau des Wiener Gürtels ein. Es war früher Vormittag, zu beiden Seiten des weißen Lieferwagens drängten sich die letzten Eiligen des morgendlichen Verkehrs vorbei. Ich beobachtete die Menschen hinter den Lenkrädern. Aus einem Kleinbus neben uns blickten mich Männer mit müden Augen an. Dichtgedrängt saßen sie in dem Transporter, offenbar osteuropäische Arbeiter, die einheimische Bauunternehmer morgens vom
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