31 - Und Friede auf Erden
Uncle, wir Menschen sind vielleicht doch etwas andere Wesen, als wir denken!“
Da kehrte Tsi zu uns zurück, setzte sich wieder nieder und sagte:
„Das war die eine Botschaft, welche der Malaie brachte. Er hatte noch eine zweite, nämlich an Waller. Ich konnte ihn natürlich nicht zu dem Kranken lassen und habe ihn deshalb zur Tochter geschickt. Der Auftrag, den er auszurichten hatte, besaß an sich gar nichts Wunderbares, zeigte sich aber mit einem Nebenumstand verbunden, den ich fast unglaublich nennen möchte. Man hat nämlich in den Trümmern des niedergebrannten Tempels ein Buch gefunden, welches dem Missionar gehört, ein Neues Testament in englischer Sprache, vollständig unversehrt. Das brennend zusammenstürzende Gebälk hat den steinernen, leicht emporstrebenden Altar zusammengeschlagen, und unter diesen zerbrochenen Platten lag das Buch. Wie ist es dorthin gekommen? Das wird nur Waller erklären können. Mir ist, als ob ich ihn dabei schon sagen hörte: ‚Dieses Wunder spricht für mich. Grad durch das zusammenbrechende Heidentum wurde das christliche Evangelium beschützt!‘ Für mich aber liegt das Unbegreifliche nicht hierin, sondern anderswo. Ich erinnere an das geheimnisvolle Gedicht, dessen erste Zeilen Miß Mary vom Wind zugeweht wurden, während sie die folgenden dann in dem Täschchen fand, welches sie bei dem amerikanischen Professor vergessen hatte. Denken Sie sich: Nun hat sich auch die zweite Strophe eingestellt!“
„Wo?“ fragte John Raffley schnell.
„In dem erwähnten Neuen Testament. Erst ein Windstoß in Kairo; dann ein Brief eines Professors aus Philadelphia und heut ein Paket, auf das sorgfältigste verschnürt, aus den Bergen von Sumatra! Das sind die drei Boten, welche dieses Gedicht für Miß Mary oder, vielleicht noch richtiger, für ihren Vater zusammengetragen haben!“
Er sah uns hierbei der Reihe nach an, um sich an unsrem Erstaunen zu weiden. Darum sagte ich einige Worte, in denen ich auch mich verwundert zeigte. Dann fuhr er fort:
„Man könnte fast an ein Mirakel glauben; aber grad darum, weil ich dies nicht tu, fühle ich mich für diesen geheimnisvollen Vorfall doppelt enthusiasmiert. Das Zusammenfinden der ersten Strophe wäre vielleicht zu erklären. Wie aber kommt die zweite hinauf in den so weltentlegenen, malaischen Kampong? Das Buch ist unbedingt Wallers Testament, nicht etwa ein fremdes. Seine Tochter hat noch oben im Tempel darin gelesen, und zwar das berühmte ‚Kapitel der Liebe‘ im ersten Korintherbrief. Sie hatte es ganz absichtlich aufgeschlagen, gedrängt von dem Gedankengang, daß die bei den braven Malaien gefundene Güte und Liebe sie verpflichtete, ihrerseits dieselbe Liebe zu üben. Sie weiß genau, daß dieses Papier da nicht im Buch gewesen ist. Und nun, heut, liegt es grad bei diesem Kapitel, und nicht nur das, sondern es trägt auch die Aufschrift desselben! Es ist die Handschrift, das Versmaß, der Reim, der Geist, die Seele desselben Dichters, und doch hat sich außer Waller kein Europäer, kein Deutscher dort oben im Malaiendorf befunden. Ich frage, gibt es jemand, der eine Erklärung hat?“
„Ich nicht!“ gestand der Governor aufrichtig.
John Raffley sah still vor sich nieder; ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. Dann hob er den Kopf, wobei sein Auge mich mit einem schnellen Blick streifte, und sprach:
„Dieser Dichter scheint entweder allwissend und allgegenwärtig, vielleicht auch unsichtbar, auf alle Fälle aber ein außerordentlich pfiffiger Patron zu sein! Wenn es sich später fügt, daß man ihn kennenlernt, muß man ihm fleißig auf die Finger sehen!“
„Das sagen Sie natürlich scherzend“, fiel Tsi schnell ein. „Ich weiß, daß ich die Erklärung nicht zu finden vermag, und will mich darum nicht mit vergeblichen Gedanken quälen, sondern die Sache nehmen, wie sie ist. Und wie ist sie? Sie sollen es hören. Die Lady hat mir das Gedicht für Sie anvertraut.“
Er nahm das von mir geschriebene Blatt aus seiner Tasche und las:
„Tragt Euer Evangelium hinaus,
Indem Ihr's lebt und lehrt an jedem Orte,
Und alle Welt sei Euer Gotteshaus,
In welchem Ihr erklingt als Engelsworte.
Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen;
Dann wird die Erde Christi Kirche sein
Und wieder eins von Gottes Paradiesen!“
Er schaute uns der Reihe nach an, um zu sehen, welchen Eindruck die Vorlesung auf seine Zuhörer gemacht habe. Dann fuhr er fort:
„Mir kommt es vor, als habe ich
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