Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
31 - Und Friede auf Erden

31 - Und Friede auf Erden

Titel: 31 - Und Friede auf Erden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
unbegreiflich‘ nennt! Ich bitte Euch, Sir, öffnet doch die Augen! Ich habe mich sowohl bei den Christen als auch bei den Heiden umgesehen, und zwar bei beiden mit offenen, freundlichen, vorurteilslosen Augen. Hätte der Himmel mir die Gabe verliehen, das beschreiben und veröffentlichen zu können, was ich da beobachtet habe, so würde ich zwei Bücher schreiben, nichts weiter, denn das wäre genug. Das eine Buch würde betitelt sein: ‚Das Heidnische im Christentum‘ und das andere: ‚Das Christliche im Heidentum‘. Ihr habt, da wir von malaischen Dichtern sprachen, wahrscheinlich keine Ahnung, wie nahe verwandt und wie oft sogar ebenbürtig sie Euren christlichen Dichtern sind. Man staunt zuweilen über diese Gleichheit des geistigen Pulsschlages. Und was besonders den Mann betrifft, von welchen hier die Rede ist, so muß – – – ah, daß ich mich unterbreche, wißt Ihr denn nicht, daß er noch etwas ganz anderes ist als bloß nur Oberpriester seiner Malaien?“
    „Nein“, antwortete der Uncle.
    „Hat er es Euch nicht gesagt, nicht wenigstens angedeutet?“
    „Nein, mit keinem Wort.“
    „So! Wie mich das freut! Das ist die wahrhaft königliche Bescheidenheit der wahren Menschengröße! Hätte er wohl ebenso geschwiegen, wenn er ein Europäer gewesen wäre? Er ist nämlich der anerkannt größte der gegenwärtigen malaischen Dichter, eine Berühmtheit, soweit die malaischen, chinesischen und indischen Zungen klingen. Grad darum war er es, der von meinem Vater auserwählt wurde, zu uns zu kommen, um unsere ‚Shen‘ zu studieren. Er war der beste und der passendste Mann dazu im ganzen indischen und polynesischen Archipel. Ich bin stolz, ja stolz darauf, daß dieser Mann mich achtet. Der Segen, den er auf das Haupt unserer Freundin Mary legte, war nicht der Segen eines gewöhnlichen Menschen, sondern eines Auserwählten, der nicht bloß leere Worte spendet, sondern wirklich das besitzt, was er geben will, wenn er segnet! Und hat er Euch ein Gedicht geschickt, so ist das sicher keine gering zu achtende Gabe. Er tut das nicht, um Euch nachträglich doch noch zu zeigen, wer und was er ist, sondern aus höheren, reineren Gründen. Er hat über Euch nachgedacht und über alles, worüber er mit Euch sprach. Wahrscheinlich gibt er Euch nun das Resultat dieses seines Nachdenkens, und wenn Ihr es wünscht, so bin ich gern bereit, es Euch zu übersetzen.“
    „Aber natürlich wünschen wir das!“ rief er Uncle begeistert aus. „Also ein Dichter, ein großer, ein berühmter Mann ist dieser mein guter Freund, der Heidenpriester! Das wundert mich eigentlich nicht, denn das lag mir schon gleich in den Gliedern; es wird mir nur jetzt erst klar. Hier ist der Brief. Bitte, ihn uns vorzulesen!“
    Er gab ihn dem Chinesen hin. Dieser las ihn still für sich durch, nickte dann langsam und wiederholt mit dem Kopf und sagte, indem er lächelnd zu uns herüberschaute:
    „Es ist so, wie ich dachte: Eine Dichtergabe. An Inhalt reich und an Gedanken schwer. Ein abschließender Strich unter das, was er hier bei Euch erlebte, und dann die Summe, das geistige Resultat, in großen, runden Ziffern. Wie jammerschade, daß ich kein Dichter bin! Die Wiedergabe in Prosa zerstört ganz unbedingt den Wert und ebenso die Wirkung. Gäbe es doch einen unter uns, der wenigstens Reime machen könnte, so wäre, wenn auch nicht alles, so doch die dichterische Form gerettet!“
    Da blinzelte Raffley mir von der Seite her mit den Augen zu und sagte:
    „Wie steht es mit Euch, lieber Charley? In Euren deutschen Schulen wird ja schon in den untersten Klassen Unterricht über Literatur, Dichtkunst und jede Art von Versfabrikation gegeben. Auch habt Ihr schon einmal ein Buch über Astronomie verbrochen. Zwar gibt mir das noch keine Veranlassung, Euch selbst für einen Stern zu halten, aber vielleicht steht es Euch aus Eurer Jugendzeit noch in Erinnerung, wie man die Worte zu wenden und zu drehen hat, um einen Reim fertigzubringen?“
    „Hm!“ brummte ich nachdenklich. „Ich habe allerdings schon als Junge gereimt, nämlich zu Vaters oder Mutters Geburtstag und zum neuen Jahr; aber es war auch danach! Dann später baute ich an einer großen, gewaltigen Ballade. Die hieß ‚Der Saïstempel‘ und ist mir über alles Erwarten gut gelungen, denn sie fiel noch viel, viel dunkler aus, als die ganze Saïsgeschichte an und für sich schon ist. Und wenn ich mir Mühe gebe, so ist es mir vielleicht möglich, aus dieser allgemeinen Finsternis einige

Weitere Kostenlose Bücher