31 - Und Friede auf Erden
und leider nicht auch andere! – Doch, ich muß mich verabschieden. Ich habe heut zu wachen, bis morgen früh, bei Waller.“
„Ist das unbedingt nötig?“ fragte ich.
„Jetzt noch, ja. Wir wechseln ab, Miß Mary und ich.“
„Darf keiner von uns sich beteiligen? Es würde mir nichts, wirklich gar nichts tun, einmal eine Nacht nicht zu schlafen. Bitte, lassen Sie mich heut Ihre Stelle einnehmen!“
Mein Wunsch schien ihm nicht ganz unwillkommen zu sein, doch entschied er erst nach einigem Zögern:
„Ich nehme Ihr Opfer an, weil ich weiß, daß es für Sie von großem Interesse ist, an meinen psychologischen Beobachtungen teilzunehmen. Kommen Sie noch vor zehn Uhr zu mir! Es ist nötig, daß ich Sie vorbereite.“
Er ging.
Als er fort war, stellte John sich hoch und breit vor mich hin, sah mir mit listigem Augenzwinkern in das Gesicht und fragte mich:
„Es ist Euch doch wohl ein ‚Sihdi, welcher Gedichte macht‘, bekannt, Charley?“
„Freilich!“ lachte ich.
„Kann dieser Sihdi auch solche Reime machen, wie wir vorhin gehört haben?“
„Er hat sich vorgenommen, es zu versuchen.“
„Ihr wollt mir entweichen. Also gerade und glatt heraus: Hat dieser Sihdi jenes Gedicht gemacht?“
„Nein!“ behauptete ich.
„Hallo! Ich kenne Euch als einen streng wahrheitsliebenden Mann; jetzt aber scheint Ihr doch eine Ausnahme machen zu wollen! Ich möchte diese Verse keinem andern als nur Euch zuschreiben!“
„Nehmt Herzensdank für die gute Meinung, die Ihr von mir habt! Aber ich sagte soeben, daß man zwischen Harfe und Spieler zu unterscheiden habe. Wenn sich der Betreffende nicht nennt, so tut er das jedenfalls aus Gründen, die wir achten müssen. Warum also nach ihm forschen und fragen?“
„Well! Ihr habt in einem so bestimmten Ton ‚nein!‘ gesagt, daß – – –“
„Bitte“, unterbrach ich ihn; „diese Antwort galt nicht Eurem Fragegedanken, sondern Eurer Ausdrucksweise. Ihr fragtet, ob dieser Sihdi jenes Gedicht ‚gemacht‘ habe. Es gibt freilich Tausende und aber Tausende von Gedichten, welche ‚gemacht‘ worden sind; sie werden für Gedichte ausgegeben, sehen ihnen auch ähnlich, sind aber keine Gedichte. Wahre, wirkliche Gedichte werden nicht gemacht, wenigstens nicht hier bei uns; sie entstehen in jenen Sphären, aus denen die Inspiration auf Engelsflügeln niederschwebt, um dem nach oben lauschenden Poeten die Stirn zu küssen und ihm das Auge und das Ohr für eine Welt zu öffnen, die anderen verborgen bleibt. Der Dichter ist darum zugleich auch Seher. Das ist das unerträglichste Erkennungszeichen. Wer nicht Seher ist, kann auch nicht Dichter sein! Schaut in die Heilige Schrift! Wie oft beginnen die Reden der Propheten: ‚Und ich sah‘ oder ‚Und ich hörte eine Stimme‘. Sie waren Seher, und lest nun ihre Worte, so werdet Ihr erkennen, daß sie als Seher Dichter waren. Das eine ist nicht von dem anderen zu trennen! Dem wahren Dichter kommt aus einer Welt, die mit der unsrigen zusammenhängt, auf leisen Schwingen schön gebor'ne Kunde; er nimmt sie auf; er gibt sie weiter fort, und wer sie hört, der wird von ihr berührt, als sei sie ein Gedicht aus Engelsmund. Das ist die Poesie, die aus dem Himmel stammt; kein Geist, kein Mensch kann sie uns niederbringen; dort oben, wo das Meer des Lichtes flammt, muß jeder Strahl in goldenen Reimen schwingen. Und steigt er nieder, nimmt er Formen an, um sich dem Menschensinn zu offenbaren, und diese Formen, sie bestehen dann für unsre Nachwelt noch nach tausend Jahren!“
Raffley und der Governor standen da und sahen mich aus großen Augen an. Es war wie eine Begeisterung über mich gekommen, und ich hatte gesprochen, ohne vorher zu überlegen oder gar die Worte metrisch abzuwägen.
„Wißt Ihr nun, was ein Gedicht ist?“ fragte ich. „Und wißt Ihr nun, wer eigentlich das Recht besitzt, sich einen Dichter zu nennen?“
Da antwortete der Neffe:
„Ich habe es nicht mit der Heimat der inspirierenden Kräfte zu tun, sondern mit der von ihnen auserwählten Persönlichkeit, und diese ist für mich der Dichter. Sagt mir nun noch hundert- oder tausendmal alles, was ihr wollt, aber das Gedicht, von dem die Rede ist, wird doch mit keinem andern Namen als nur mit dem Eurigen gedruckt! Ich bitte, mir dann mitzuteilen, in welchem Werk; es muß sofort in meine Bücherei!“ –
Es war halb zehn Uhr, als ich zu Tsi ging. Er befand sich in seinem Zimmer und sagte mir, er habe Mary mitgeteilt, daß ich wachen wolle, und sie
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