31 - Und Friede auf Erden
den Dichter jetzt entdeckt, oder vielmehr die Dichterin, nämlich unsere ‚Shen‘, die Menschlichkeit, welcher der Friede auf Erden höher steht als jedes andere, vergängliche Interesse. Aber der Verfasser ist jedenfalls ein Deutscher, welcher von dem Vorhandensein der ‚Shen‘ nicht die geringste Ahnung hat. Oder doch? Gibt es auch für ihn eine ‚Shen‘? Eine unsichtbare, überirdische, in deren Geist die unserige, die irdische hier waltet?“
Indem er das Blatt jetzt wieder zusammenfaltete, schien es, als ob sein Gesicht ein ganz anderes geworden sei. Es gibt seelische Feinheiten, zu deren Bezeichnung oder Beschreibung selbst das zarteste Wort noch zu plump sein würde. Mit fehlt der Ausdruck für das, was aus dem Gesicht dieses jungen Chinesen jetzt zu uns sprach. Es war eine Klarheit, eine Innigkeit, ein Enthusiasmus, eine Glückssehnsucht und zugleich schon Glücksahnung, es war – – – wahrscheinlich doch er selbst, sein ganzes Wesen, sein Fühlen und sein Denken, aber verklärt, verschönt und vergeistigt durch etwas anderes, was nicht zu ihm gehörte, sondern von außen her zu ihm gekommen war.
„Ich bin so froh“, sagte er weiter, „so herzlich froh über das, was ich Ihnen da vorgelesen habe. Wären doch wir es nicht allein, wir wenigen Personen, die es kennenlernen! Könnte es doch von jedem Mund zu jedem Ohr klingen! Möchte es doch nicht nur allein gehört, sondern auch verstanden und beachtet werden!“
Da antwortete John, indem ein halb verstecktes Lächeln um seinen Mund spielte:
„Das ist freilich zu wünschen, und ich denke auch, daß wir nicht die einzigen sein werden, die es kennenlernen. Es hat schon mancher weit schlechtere Gedichte gemacht, als dieses ist, und dann sofort den Drucker aufgesucht, um sich in einer Auflage von zweihundert zu verewigen. Es soll auch Dichter gegeben haben, welche diese Auflage nicht selbst zu bezahlen brauchten, sondern sogar noch Honorar dafür bekamen. Um so weniger brauchen wir uns in Beziehung auf den Mann zu sorgen, um den es sich hier in diesem Fall handelt. Wer seine Gedichte auf so ganz ungewöhnlich schwierigen Wegen in Ägypten, Indien und sogar hier auf den Sundainseln an den richtigen Mann zu bringen weiß, der findet wohl auch anderwärts die gewünschte Zahl von Lesern, wenn er will. Wie es scheint, dichtet er nicht, um seinen kleinen, irdischen Namen bekannt zu machen, oder gar zu verewigen, sondern um Gedanken zu verbreiten, die er aus den geistigen Strömungen der Gegenwart herausgreift. Was er sagt, hat er also nicht etwa sich selbst zu verdanken; aber wie und wem er es sagt, das ist von ihm erdacht. Habe ich da recht, lieber Charley?“
„Gewiß! Vollständig recht!“ antwortete ich. „Wer da glaubt, der Dichter sei eine kompakte, imporöse Persönlichkeit, die von nichts Fremden berührt und durchdrungen werden dürfe, der hat vielleicht einmal gereimt, aber sicher nicht gedichtet. Selbst der edelste der Steine, der Diamant, strahlt nicht in seinem eigenen, sondern in geliehenem Licht, und wer eine Biographie über irgendeinen berühmten Dichter schreibt, sollte vor allen Dingen nach den jeweiligen Quellen der Ausstrahlungen dieses Edelsteins suchen und weder den Geburts- oder Fundort und die Fabrik, in welcher er geschliffen wurde, in der Weise betonen, wie es fast stets geschieht. Es stammt gar manche Geistesgröße aus so geistig winzig kleinen Verhältnissen, und es hat so mancher hochberühmte Mann auf Gymnasium und Universität so wenig geleistet, daß man die Wege, auf denen der Genius zu ihm kam und ihn an jedem Tag von neuem besucht, doch endlich einmal nicht mehr in sein Heimatsdörfchen oder in die später durchlaufenden Semester verlegen sollte! Darum wird jeder wahre Dichter viel mehr nach oben als nach unten dankbar sein. Er weiß recht wohl, daß er durch die äußeren Verhältnisse zwar Harfe mit soundsoviel Saiten geworden ist, daß es aber wohl keine Harfe gibt, die sich selbst zu spielen vermag.“
Da sah Tsi, der Chinese, mich ganz eigentümlich an.
„Harfe!“ sagte er. „Dann kommt der Genius, der jede Zeit hoch überragt, mit seinen tausend Engeln und läßt bald hier, bald dort, bald diese und bald jene Saite rühren. Darum kann das geheimnisvolle Gedicht, von dem wir sprachen, und dessen Quell in Deutschland zu liegen scheint, fast ganz genau dieselben Gedanken haben und desselben Sinnes sein wie das, was der Oberpriester der Malaien schrieb! Wären es doch überall nur solche Engelshände
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