31 - Und Friede auf Erden
sei damit dankbar einverstanden gewesen. Dann fuhr er fort:
„Ich hatte die Absicht, Ihnen eine ausführliche Erklärung des Krankheitszustandes zu geben, und dann wollte ich Ihnen für jeden in der Nacht möglichen Fall die betreffenden Verhaltungsmaßregeln vorschreiben; aber ich will doch lieber davon absehen, dies zu tun. Sie sollen Ihres heutigen Amtes in möglichster Unbefangenheit walten. Sie sollen diesen scheinbar Geisteskranken nicht von meinem Standpunkt, sondern von dem Ihrigen aus betrachten, und dann werden wir sehen, welche Differenzen sich zwischen beiden ergeben. Kommen Sie also! Ich führe Sie nach der Krankenstube.“
Er ging voran und öffnete die Tür. Das Zimmer war groß; der schöne Abendhauch hatte ungehindert Zutritt. Auf dem Tisch brannte eine halb verhangene Lampe. Der Kranke lag unter einer leichten Decke lang ausgestreckt im Bett, an welchem Mary saß. Als sie mich sah, stand sie auf.
„Wie recht, daß Sie kommen!“ sagte sie leise. „Sie werden ihn kaum wieder kennen; aber ich bin nicht mehr traurig, sondern froh, denn Herr Tsi hat mir versichert, daß Vater gerettet sei. Er kennt mich noch nicht, ist aber in den Zwischenräumen tiefer Apathie geistig ungemein beschäftigt. Womit, das werden Sie nicht erraten. Kommen Sie; nehmen Sie Platz!“
Tsi schob mir einen Stuhl an die Seite des ihrigen. Waller hatte allerdings ein fast leichenhaftes Aussehen. Das Gesicht war zum Erschrecken eingefallen. Ich sah das Skelett eines Kopfes vor mir, und die Hände bestanden auch nur bloß aus Knochen, um welche sich die Haut in lockeren Falten legte. Wir sprachen nicht. Es wäre mir schwer geworden, bei diesem Anblick Worte zu machen.
Der leise, nicht unangenehme Duft des Ko-su erfüllte den Raum, so ähnlich, wie wenn Weihrauch durch die Halle einer Kirche getragen worden ist, und wie dieser Gott geweihte Ort an andere, höhere Welten mahnt, so zog auch hier das Ringen einer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits schwebenden Menschenseele unser Denken und Empfinden nach der Grenze hin, an welcher alles aufzuhören scheint, weil alles dort beginnt. Seelenäußerungen, an dieser Grenze für die zurückliegende Erde in Menschenworte gekleidet, sollen dem, der diese Worte hört, nicht anders als nur heilig sein!
Es herrschte tiefe Stille im Zimmer; auch draußen regte sich nichts; der Kranke lag wie tot. Nach einiger Zeit gab Mary mit der Hand ein Zeichen. Ich sah, daß er die Lippen bewegte. Dann klang es langsam und leise zwischen ihnen hervor:
„Ich sehe dich und höre dich, mein Lieb! Du bist nicht tot, du bist in meiner Seele. Du hast es mir gesandt, weil ich's vergessen hatte.“
Er hatte seine Stimme bei diesem letzten Satz in der Weise erhoben, wie man vor einem Doppelpunkt zu lesen pflegt, und fügte nun mit stark und voll niedersinkender Stimme hinzu:
„Tragt Euer Evangelium hinaus,
Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden.“
Hier hielt er inne; das also hatte Mary gemeint, als sie sagte: „Womit, das werden Sie nicht erraten.“ Er bog nach diesen Worten den Kopf zur Seite, als ob er auf etwas lausche, und sprach dann ebenso langsam und ebenso leise wie vorher weiter:
„Vergib! Ich war vom Antichrist betört! Er tat, als ob er unser Jesus sei! Ich habe nur auf ihn, auf ihn gehört und glaubte mich von allem Irrtum frei. Du warntest mich; du hattest ihn durchschaut, sahst ihn in seiner ganzen Häßlichkeit; in deiner Stimme ward mein Engel laut, der Engel unserer ganzen Christenheit – – –“
Mary hatte, vielleicht es gar nicht wissend, ihre Hand auf die meine gelegt.
„Er spricht mit Mama“, flüsterte sie mir zu. „Er tat es schon vorhin.“
Sie nahm meine Hand fester, als ob sie für das nun Folgende nach einem Halt suchen müsse. Ihr Vater sprach nach dieser Pause weiter:
„Du gingst von mir – ich war mit ihm allein, mit ihm, vor dem du mich so oft gewarnt, und darum konnte es nicht anders sein: er hat mich vollends, durch mich selbst, umgarnt. O glaube mir, ich hab es nicht gedacht, daß Christi Wege andere Wege sind; der fromme Dünkel hat mich irrgemacht; er ist der Hölle größtes Lieblingskind – – –“
Hier holte er zum erstenmal tiefer Atem, so daß man seine Brust sich bewegen sah. Seine Züge waren bisher während des Sprechens unverändert geblieben; nun wurden sie von dem Ausdruck seelischer Pein bewegt, als er fortfuhr:
„Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
So stehe es für Euch im Völkerfrieden!“
Nach diesen Worten
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