31 - Und Friede auf Erden
eine Bewegung, welche bedeutete, daß er zwar gern hierüber weitersprechen möchte, es aber lieber doch nicht tue. Dann fuhr er fort:
„Wissen Sie, was Sie getan haben, als Sie Waller sagten, der Missionar sei umgekehrt?“
„Ja“, antwortete ich.
„Und glauben Sie, richtig gesprochen zu haben?“
„Ich glaube es nicht nur, sondern ich bin überzeugt davon. Der Mensch ist kein willenloses Stein-, Ziegel- oder Holzgebäude, welches sich gefallen zu lassen hat, wer in ihm wohnt und jeden Winkel für seine besonderen Zwecke auszunutzen trachtet. Wir haben unsern eigenen Willen und sind auch sonst nicht ohne allen Schutz, mein lieber Freund!“
„Ja, das ist es, das! Die Psyche ist etwas ganz anderes als man denkt, und den Geist kennt man sogar noch weniger als sie. Und weil man sich der richtigen Erkenntnis verschließt, zieht sich durch unser ganzes Leben eine große, endlose Versündigung, welche ihre Kralle nach jedem neugeborenen Menschen ausstreckt, um ihn sich ja nicht etwa entwischen zu lassen. Sie haben heut nacht Großes, wahrhaft Großes gehört. Es waren Bibelsprüche. Soll ich sie Ihnen auslegen? Nein! Ich bin ja Heide! Ein anderer mag es tun, ein studierter christlicher Theologe, der sich hierzu ganz besonders berufen gefühlt hat, nämlich Waller selbst! Er mag Ihnen an seinem Körper, an seinem Geist und an seiner Seele demonstrieren, was ich Ihnen nur in Worten sagen könnte, die unzulänglich sind. Also lassen wir jetzt alles Reden, alle Theorie, und beobachten wir die Tatsachen; ich meine das, was von nun an geschehen wird!“
„Sind Sie dessen so sicher, was geschehen wird?“ fragte ich.
„Ja“, antwortete er. „Sie müssen bedenken, daß ich ihn schon volle zwei Wochen beobachtet habe, während Sie nur eine einzige Nacht bei ihm gewesen sind. Für jetzt nun wollen wir schließen. Schlafen Sie einige Stunden! Ich bleibe hier, bis Mary kommt.“
„Vorher noch eine Frage: Miß Mary sagte, ich würde wohl nicht erraten, womit sich ihr Vater in den Zwischenräumen tiefer Apathie beschäftigt. Was hat sie da gemeint?“
„Das geheimnisvolle Gedicht. Er bringt es sehr oft, natürlich, soweit er es kennt. Und da kann ich Ihnen eine psychologische Bemerkung machen, über die Sie sich wahrscheinlich wundern werden. Sie wissen, daß er offenen Geistes nur die vier ersten Zeilen gehört hat, damals in Kairo. Er interessierte sich für sie, las sie öfters durch und lernte sie auswendig. Die nächsten vier Zeilen fand sie bekanntlich in ihrem Taschenbuch, als wir auf der Veranda des Hotel Rosenberg saßen. Ihr Vater hatte also nicht die geringste Ahnung von ihnen. Er sprach im tiefsten, körperlichen Schlaf die erste halbe Strophe so häufig vor sich hin, daß ich anzunehmen hatte, sie beschäftige ihn fast immerwährend. Etwas Unvollendetes quält, besonders einen derartigen Kranken. Darum wartete ich, bis er die ersten Zeilen wieder einmal brachte, und fügte sofort und schnell die folgenden hinzu, indem ich sie vorlas, langsam und deutlich, doch nur ein einziges Mal. Sein Körper war wie tot. Ich bemerkte nicht das geringste Zeichen, daß ich gehört worden sei. Ich berührte ihn an verschiedenen Körperpunkten. Ich machte jede mögliche Probe, ob er wachend sei; doch er schlief, schlief fest und war nicht zu wecken. Aber als er dann einige Stunden später das Gedicht wieder brachte, kannte er die zweite Hälfte so genau wie die erste und hat auch seitdem kein Wort von ihr vergessen. Die eigentümlichen Umstände, unter denen er sie zu bringen pflegt, werden Sie noch kennenlernen. Nun aber gehen Sie! Ich wünsche, daß Sie schlafen, wenn auch nur für kurze Zeit.“
So mußte ich mich denn entfernen, obgleich ich noch einige weitere Fragen auf dem Herzen hatte, deren sofortige Beantwortung mir lieb gewesen wäre.
Es war nicht leicht, mir über das, was ich in dieser vergangenen Nacht gehört hatte, klarzuwerden. Besonders störte mich der Umstand, daß er in Reimen gesprochen hatte. Er war kein Poet; aber von Mary erfuhr ich, daß ihre Mutter eine Dichterin gewesen sei und einen Band religiöser Gedichte veröffentlicht habe, nach denen alles klinge, was ihr Vater jetzt in gebundener Rede sage.
Seine körperliche Genesung schien zwar langsam, aber sicher voranzuschreiten, doch geistig blieb er, wie er war. Er kannte uns nicht und auch nur noch das eine, daß er nicht mehr der Missionar Waller, sondern der Knabe Waller sei.
Tsi vermied es, sich über diesen Zustand völliger
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