31 - Und Friede auf Erden
ergriffen und bewegt zu werden schien?
Ich ging zu ihm hinein. Er hatte sich auch dieses Mal wieder erhoben gehabt und lag nun so, daß sein Kopf weicher zu betten war. Als ich dies getan hatte, ging ich wieder hinaus und versuchte, mir den Gedankengang des Kranken zu erklären.
Die christliche Theologie pflegt das, was mich beschäftigen wollte, den ‚Heilsweg‘ zu nennen. Aber wer, wie ich, nicht Fachmann ist, der läßt solche Grübeleien am besten den sich dazu berufen Fühlenden über. Darum schob ich diese Gedanken bald wieder fort und beobachtete das Nahen des Morgens, der jetzt hell und immer heller zu werden begann und mich schließlich an die brennende Lampe erinnerte, welche drin auf dem Tisch stand. Ich ging hinein, um sie zu löschen.
Waller hatte die Augen zu, doch schien er mich gehört zu haben, denn er bat mich mit schwachklingender Stimme um Wasser. Ich gab es ihm, zwar nur löffelweise, aber er trank doch ein ganzes Glas voll aus. Dann öffnete er die Augen und sah mich an, lange Zeit. Ich stand still und ließ es geschehen. Der Blick seiner Augen wurde immer klarer, aber er erkannte mich trotzdem nicht. Da flüsterte er mir zu:
„Sag, bin ich der Missionar Waller – – – oder bin ich noch der Knabe Waller? Ich weiß es nicht genau.“
Da ging es wie eine leuchtende Erkenntnis in mir auf, ganz plötzlich, wie die Sonne auf dem Meer aufzugehen pflegt, und ich antwortete, ohne mich weiter zu besinnen:
„Der Missionar ist umgekehrt. Hier liegt nur noch das Kind, der Knabe Waller.“
„Das Kind! Der Knabe!“ lächelte er beglückt. „Ich danke dir, du lieber fremder Mann!“
Er wollte hierauf die Augen schließen, tat aber gerad das Gegenteil, indem er sie weit öffnete, denn soeben drang der erste Sonnenstrahl zur offenen Verandatür herein und überflutete das Krankenzimmer wie mit flüssig diamantenem Gold. Er schaute hinaus, hinaus ins Freie, faltete die hageren Hände und sprach, indem seine Stimme leiser und immer leiser wurde:
„Ein Knabe – – – ein Kind – – – in solchem Licht! Ist dies das Leben – – –? Ist es der Tod – – –? Oder ist es beides – – –? So, so will ich sterben und dann leben – – – als Kind – – – in diesem Licht – – – im goldenen Morgenglanz – – – im ersten Sonnenstrahl – – – als Kind, als Kind!“
Hierauf schloß er die Augen, tat einen tiefen, tiefen Atemzug und schlief ein. Das Lächeln des Glücks aber wich nicht von ihm; es spielte um seine Lippen weiter.
Bald darauf stellte Tsi sich ein. Er winkte mir, auf der Veranda zu bleiben, und kam leisen Schrittes zu mir heraus. Ich berichtete ihm, was geschehen war. Er sagte zunächst nichts, sondern schaute still nach dort hinüber, wo die aufgegangene Sonne stand.
„Wie richtig, wie richtig!“ erklang es endlich von seinem Mund, indem er wiederholt bestätigend vor sich hin nickte.
„Was?“ fragte ich.
„Daß Sie zu ihm gesagt haben, der Missionar sei umgekehrt. Ich glaubte, Ihnen heute früh eine Menge von Erklärungen geben zu müssen. Mit diesem einen Wort aber haben Sie mich all dieser Mühe enthoben. Wer so antworten kann, den brauche ich nicht erst noch zu unterrichten! Ja, der Missionar ist allerdings umgekehrt, wie es scheint. Oder, um dasselbe mit noch anderen Worten zu sagen, will ich mich eines biblischen Ausdrucks bedienen, welcher außerordentlich bezeichnend ist: Der Missionar ist zu seinen Vätern gegangen, zu den Ahnen, von denen er stammte! Wallers Vorurteil war das Vorurteil seiner Väter; das wissen Sie ja längst. Es ist zu ihnen zurückgekehrt.“
„Als der letzte ihres Stammes“, fügte ich nachdenklich hinzu.
Da machte er eine Bewegung nicht zu verbergender Überraschung und fragte schnell:
„Was wissen Sie hierüber? Ich erstaune, diese Bemerkung aus dem Mund eines Europäers zu hören! Woher haben Sie erfahren, was es für dort bedeutet, hier der letzte seines Stammes zu sein? Ich habe gedacht, Ihr glaubt, der Tod mache einen Strich nur unter das Leben jedes einzelnen. Wie wahrhaft christlich, daß Sie diesen einzelnen entlasten wollen, wenn auch nicht ganz! Und wie wahrhaft gerecht, diejenigen herbeizuziehen, von denen nicht nur die menschliche Form, der Körper stammt, sondern mehr, viel mehr! Wenn man im Abendland doch endlich einmal ernstlicher und besser nachdenken wollte über das, was man so unsinnigerweise als unsern ‚Ahnenkultus‘ bezeichnet!“
Er machte mit der Hand
Weitere Kostenlose Bücher