Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
31 - Und Friede auf Erden

31 - Und Friede auf Erden

Titel: 31 - Und Friede auf Erden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
Geist ist es, den du jetzt zu dir sprechen hören wirst!“
    Ich folgte dieser Aufforderung, und Hadschi Halef und der Basch Nazyr ließen sich auch, und zwar eng neben mir, nieder. Hierauf stand der Blinde eine ganze Weile hoch aufgerichtet und unbeweglich da, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, als ob er in die Ferne lausche. Wir befanden uns in einer ganz ungewöhnlichen Spannung, der wir aber keine Worte gaben, denn in der ganzen Situation und wohl auch in uns selbst lag etwas, was uns das Sprechen verbot. Da begann er:
    „Seid mir gegrüßt, ihr Pilger dieser Erde, gegrüßt in der Sprache dieser eurer Welt! Wenn ich zu euch in unserer Weise spräche, ihr würdet nichts vernehmen, denn euer Ohr hat nur Empfängnis für den Schall, durch Schwingungen der Luft zu euch getragen; wir aber sprechen nicht durch dieses Mittel, und unser Wort ist kein Geräusch, ist Tat!“
    Hier, grad bei dieser Stelle war ich im Lesen angekommen, da krachten hinter mir die Fugen von Wallers Lager. Ich stand rasch auf und drehte mich um. Er hatte sich aufgerichtet; er saß. Woher hatte er, der Todesschwache, die Kraft dazu erhalten? Er schaute starr vor sich hin, hob drohend die Faust empor und rief mit tief dröhnender Baßstimme aus:
    „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weib und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Dieser soll dir den Kopf zertreten, du aber wirst ihn in die Ferse stechen!“
    Er blieb fast eine ganze Minute so sitzen, mit geballter Faust und ausgestrecktem Arm. Dann fiel er hintenüber und lag mit geschlossenen Augen so still, wie er vorher gelegen hatte.
    Was war das gewesen?! Woher die tiefe Stimme, dieser volle, schwere Baß, den Wallers Organ gar nicht besaß? Und woher plötzlich diese Lungenstärke, welche die Worte hinausgerufen hatte, als ob sie für eine große, weit ausgedehnte Menge von Zuhörern berechnet gewesen seien?
    Ich ging leise zu ihm hin und lauschte. Sein Atem ging fast unhörbar, aber in regelmäßigen Zügen. Ich berührte ihn; er schien es nicht zu fühlen. Ich hob seinen Kopf ein wenig empor, um ihm das Kissen bequemer zu legen; es geschah ohne die geringste Lebensäußerung von ihm. Da kehrte ich an den Tisch zurück und las im Buch weiter.
    Stunde um Stunde verrann. Mitternacht war längst vorüber. Die tiefe Stille begann mich zu ermüden, und das gedämpfte Lampenlicht strengte meine Augen an. Ich stand also von meinem Stuhl auf und ging wieder hinaus auf die Veranda. Da setzte ich mich nieder und dachte über das Gelesene nach. Da, plötzlich erscholl im Zimmer drin dieselbe tiefe Stimme:
    „Es ist vollbracht! Da neigte er sein Haupt und ging hinüber!“
    Ich wartete ein Weilchen, ehe ich mich wieder in das Zimmer begab. Er hatte sich abermals aufgerichtet gehabt, denn er lag jetzt anders als vorher. Ich schob ihm das Kissen wieder unter, und er regte sich hierbei ebensowenig wie bei dem vorigen Mal. Er war wie tot, wenn auch nicht starr steif. Da kehrte ich nach meinem Sitz in der Veranda zurück.
    Noch glänzte der Sternenhimmel in seiner südlichen Pracht über mir; aber ich achtete heute weniger als sonst auf seine strahlenden Lichter. Warum? Ich dachte über Wallers Worte nach. Die erste biblische Verheißung – – – und dann das große Schlußwort des Erlösungswerkes! Welche unendliche Fernen liegen oftmals zwischen beiden, und wie nahe gehören sie doch eigentlich zusammen! Das eine im verlorenen Paradies, das andere auf Golgatha gesprochen! Zwischen beiden der Leidensweg aus dem Erdenreich empor zum Himmelreich! Wo ist dieses Himmelreich? Etwa im Jenseits erst? Hat Christus nicht durch seine Gleichnisse gelehrt, daß es bereits hier auf Erden sei? Und wenn es so wäre, wo hätte man es da wohl zu suchen? Auf welche Weise wäre es da zu erreichen und zu erlangen?
    Eben legte ich mir diese Fragen vor, da hörte ich, daß Waller sich wieder bewegte, und dieselbe Stimme, die schon zweimal erklungen war, ertönte wieder:
    „Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so könnt ihr das Reich Gottes nicht erlangen!“
    Das war im höchsten Grade überraschend. Ein anderer an meiner Stelle wäre vielleicht gar erschrocken. Eine so laute und sofortige Antwort auf meine nur im stillen gedachte Frage! Oder lag dieser dritte Bibelvers in der Fortsetzung der logischen Linie, welche die beiden ersten verband? Wenigstens für Waller, in dessen Innern es arbeitete, während sein Körper nur an hervorragenden Stadien mit

Weitere Kostenlose Bücher