31 - Und Friede auf Erden
Wir legten den Schleier über das elektrische Licht und setzten uns hinaus vor die offene Tür. Es schien außer uns, dem Steurer und der Deckwache auf dem Schiff sich jedermann zur Ruhe gelegt zu haben. Der Mond war erst vor kurzem aufgegangen. Er warf den Schatten der Kajüte quer über das Deck und schaute durch die breiten Glasscheiben in das Innere derselben. Sein Schein fiel auf die Füße des Schläfers und rückte langsam an der still ruhenden Gestalt desselben empor. Der auf dem Licht liegende Schleier konnte die Glasglocke nicht ganz bedecken; es gab da, wo sie gehalten wurde, eine Lücke, durch welche das Licht hinüber auf das Bild der Chinesin fiel und es fast wie ein lebendes Wesen plastisch hell aus dem umgebenden Schatten hervortreten ließ. Das sah so unirdisch aus. Ich dachte unwillkürlich an die Fee, von welcher Raffley zu Mary gesprochen hatte. Tsi schien denselben Eindruck wie ich zu empfinden. Seine Augen hingen an dem Innern der Kajüte, und er flüsterte mir zu:
„Wie das Geheimnis bannt! Ist es Körper oder ist es Seele? Es scheint, daß hier ein Ort der Offenbarung sei! Der Mond sucht nach dem Angesicht des Kranken. Man sollte ahnen, daß dieses süße, weiche Licht ihm Botschaft bringen wolle!“
Ich antwortete nicht, konnte aber auch den Blick nicht von dieser Szene wenden. Das Bild sah lächelnd auf den Schlummernden nieder und schien die Lippen zu bewegen. Der Schein des Mondes schmiegte sich weiter und weiter an seiner Gestalt empor. Jetzt legte er sich ihm schon auf die Brust; dann berührte er das Kinn, den Mund; er kam bis an das Auge, und nun geschah, was Tsi erwartet hatte: der Kranke begann zu sprechen, erst flüsternd und für uns nicht verständlich; dann aber, als der Mond das ganze Gesicht, auch Stirn und Haar beschien, hörten wir deutlich, was er sagte:
„Sei mir gegrüßt, du lieber Himmelsstrahl, in dem mein Engel zu mir niedersteigt; leg dich verklärend um die Erdenqual, wenn sterbend sie das Haupt am Kreuze neigt! Sei mir gegrüßt! Laß mich im Glauben sehn, daß jene Liebe, welche litt, nachdem die Kreuzigung an ihr geschehen, im neuen Leibe vor die Jünger tritt!“
Als er hierauf schwieg, sagte Tsi leise zu mir:
„Ich vermutete ganz richtig: das Mondlicht hat ihm die Vision gebracht. Wahrscheinlich bringt er jetzt nun das Gedicht.“
Diese Voraussage bewahrheitete sich. Nach einiger Zeit fuhr Waller langsam und, jedes Wort betonend, in den beiden Zeilen fort:
„Tragt Euer Evangelium hinaus,
Indem Ihr's lebt und lehrt an jedem Orte!“
Hierauf flüsterte er wieder wie vorher. Wir hörten nur den Namen Jesus deutlich. Dann erhob er die Stimme wieder und sprach:
„Er ging durchs Land, wie nur die Liebe geht, die keinen Hader um den Himmel kennt, weil jede Kerze, die am Altar steht, wie alle andern nur nach oben brennt. Er brachte sich der ganzen Menschheit dar, nicht einem auserwählten Volk allein, und weil sein Reich nicht von der Erde war, kann es auch jetzt nicht von der Erde sein!“
Tsi griff nach meiner Hand und drückte sie; ich verstand ihn, obgleich er dazu schwieg. Jetzt wandte der Kranke sein Gesicht dem Fenster zu, durch welches der Strahl des Mondes fiel, so daß es fast tagesdeutlich vor unseren Augen lag. Er lächelte wie einer, der etwas unendlich Liebes schaut, indem er sich von neuem hören ließ:
„Er kam und ging wie dieses milde Licht, willkommen, gern gesehen an jedem Ort; ein Evangelium sein Angesicht, sprach er als Vorbild sein Erlösungswort. O du, der selbst den Schacher nicht verwarf, den Mörder, der an deiner Seite hing, wo ist ein Mensch, von dem ich sagen darf, er sei für deinen Himmel zu gering?!“
Es war so unbeschreiblich, ihn zu hören. Nie waren mir Menschenworte so tief wie diese in das Herz gedrungen. Das nun folgende längere Schweigen ließ uns ihren Eindruck ganz und voll empfinden. Dann erklang es wieder langsam und rezitierend:
„Und alle Welt sei Euer Gotteshaus,
In welchem Ihr erklingt als Engelsworte.“
Er wartete hier gar nicht, sondern fügte in einer Weise, als ob er nun etwas sehr Wichtiges zu sagen habe, sofort hinzu:
„Wer war's, der sich in Herrlichkeit und Pracht den Tempel der Unendlichkeit gebaut, wo Stern an Stern die Größe und die Macht des Schöpfers in dem Glanz von Sonnen schaut? Wer war's, der auf die Erde niederfuhr auf Allmachtsflügeln am Beginn der Zeit, in jeden Wurm zu legen eine Spur der Weltensehnsucht nach der Ewigkeit? Wer war's, wer ist's, nach dem dies Sehnen bangt
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