31 - Und Friede auf Erden
und Enkel übergehen kann, ohne den Segen der Vorfahren mitzubringen und uns zum Heil zu werden!“
Er hatte sehr ernst gesprochen. Jetzt nahm sein Gesicht einen freundlicheren Ausdruck an. Er zog seine Brieftasche heraus, öffnete sie und fragte:
„Glauben Sie, daß ich heut ein Kind gewesen bin?“
„Ein Kind? Wieso?“
„Kinder schreiben einander Albumblätter, welche sie dann im Alter mit kopfschüttelnder Rührung betrachten. Ich habe mir von Miß Waller eines schreiben lassen. Da, sehen Sie!“
Er hielt es mir hin. Es war meine Strophe.
„Ich konnte nicht anders“, fuhr er fort; „ich mußte mir diese Zeilen entweder selbst abschreiben oder abschreiben lassen, und zog natürlich das letztere vor. Es ist das selbstverständlich eine ganz persönliche Ansicht, ein ganz individuelles Gefühl, aber es ist mir, als sei in diesem Gedicht für die Völker eine Brücke allerschönster, allerbester und allersicherster Konstruktion enthalten, um einander besuchen zu gehen und liebe Geschenke nicht nur mitzubringen, sondern auch mit heimzunehmen. Es klingen aus ihm so sanfte, reine Töne, als wehe in ihm ein Hauch aus jenem unbekannten Land herüber, von welchem uns ein süßes Märchen erzählt, daß dort der Völkerfriede wohne. Ich frage mich vergeblich, ob es von einem Mann oder von einer Frau verfaßt worden ist. Der geistige Aufbau läßt auf eine männliche Logik schließen, aber die Seele, welche aus ihm spricht, kann keine andere als nur eine weibliche sein.“
„Gibt es männliche und weibliche Seelen?“ fragte ich.
„Ja, das wissen wir wohl noch nicht“, lachte er. „Man gibt ihnen wohl halb männliche, halb weibliche Züge, malt Flügel dazu und sagt dann, daß sie Engel seien. Machen wir also aus meiner Ungewißheit eine Gewißheit, indem wir sagen, ein Engel hat diese Strophe gedichtet und irgendeinem guten Menschenkind in die Feder gelegt! Dieser Engel hat uns Erdenbewohnern sagen wollen, wie wir miteinander zu verkehren haben, wenn unser Planet jenem unbekannten Land gleichen soll. Liebe, nichts als Liebe! Warum machen nun grad diese Zeilen einen solchen Eindruck auf Waller, der doch keine andere Liebe kannte als nur die zu seiner Frau und Tochter?“
„Wohl weil die Verstorbene in ganz gleicher Weise zu ihm gesprochen hat“, erwiderte ich.
„Ja. Sie haben das Richtige getroffen. Das macht der warme, freundliche, überzeugende, weibliche Klang der Worte. Es spricht aus ihnen eine Güte, welche Mrs. Waller wohl auch in hohem Grade besessen hat. Darum nimmt er diese Worte hin, als seien sie von ihr zu ihm gesprochen. Bei ihrem Klang sieht er seinen Engel wieder vor sich stehen. Er fühlte sich frei vom Einfluß jenes andern, dem er als Gast des Heidentempels unterlegen ist. Er ahnt sich gerettet und in guter Hut. Fragen wir nicht, ob er wacht oder träumt, ob er etwas sieht und hört oder nicht. Forschen wir nicht, ob Halluzination oder Wirklichkeit. Man sagt, daß Sterbenden die Augen geöffnet seien, und er befindet sich ja heut noch unter der Pforte, an welcher die Gewißheit an die Stelle der Hoffnung tritt. Nehmen wir ihn genauso, wie er ist! Seine Gedanken werden denen des Gedichtes folgen. Was dahinten liegt, das ist für ihn vorüber; die Krankheit gibt seiner Seele eine Empfänglichkeit, eine Weichheit, welche jeden lieben, guten Eindruck haften läßt. Die Worte dieser acht Zeilen werden sich tief und unauslöschlich eingraben; der Sinn derselben wird ihm zum geistigen Eigentum, zum Wesen werden, und wenn er genesen ist, wird er ein ganz, ganz anderer sein, als er vorher war, gleichviel, ob er körperlich ebenso sicher genesen wird wie geistig oder nicht.“
Diese letztere Wendung klang so, als ob er eigentlich gar nicht beabsichtigt habe, sie auszusprechen. Ich ahnte aber schon längst, daß er Waller in körperlicher Beziehung nicht für einen Genesenden, sondern für einen Sterbenden hielt und dies aber Marys wegen so lange wie möglich zu verschweigen suchte. –
Ich stellte mich schon gleich nach zehn Uhr mit Tsi bei Waller ein. Mary, die bis jetzt bei ihm gewesen war, ging schlafen. Der Kranke lag geschlossenen Auges auf seinen Kissen. Ob er wirklich schlief, konnten wir nicht unterscheiden. Es war, wie bereits gesagt, alles nicht in eine Krankenstube Passende aus der Kajüte entfernt worden. Das Bild der ‚Yin‘ aber hing noch an der Wand. Ich hatte von Mary und Tsi gehört, daß es die Augen Wallers, so oft er wache, mit unwiderstehlicher Gewalt auf sich ziehe.
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