31 - Und Friede auf Erden
Seelenäußerungen den innigsten Anteil nahmen. Ich kann also über unsere Fahrt keine sogenannten ‚Reiseabenteuer‘ berichten, an welchen sich doch nur die Oberflächlichkeit ergötzt; wer aber einen Sinn für die unendlich gestalten- und ereignisreiche Seelenwelt des Menschen hat und ein Verständnis für die Tiefe besitzt, in welcher die äußeren Vorgänge des Menschen- und des Völkerlebens geboren werden, der wird nicht mißvergnügt, sondern ganz im Gegenteil mit mir einverstanden darüber sein, daß ich ihn in diese Tiefe führe, anstatt ihn für einen Leser zu halten, der nur nach der Kost der Unverständigen verlangt.
Da gab es denn am dritten Tag, nachdem wir Hongkong verlassen hatten, ein Ereignis, welches ich in psychologischer Beziehung recht wohl ein ‚Abenteuer‘ nennen könnte. Wir hatten auf dem Deck gefrühstückt. Mary war auch dabeigewesen, dann aber zu ihrem Vater gegangen. Nun kam sie eiligst zurück und teilte Tsi in ängstlichem Ton mit:
„Ich bin bestürzt; ich habe einen Fehler begangen. Ich hatte in ‚Am Jenseits‘ gelesen und ließ das Buch, als das Zeichen zum Speisen gegeben wurde, auf dem Stuhl neben Vater liegen; ich glaubte, daß er schlafe. Als ich jetzt bei ihm eintrat, wachte er und hatte das Buch in der Hand. Er las. Denken Sie, er las in einem Buch des Verfassers, gegen den er stets gesprochen hat, weil er ihn nie verstand! Ich bat ihn um das Buch; er schüttelte nur den Kopf. Ich wiederholte meine Bitte zum zweiten- und zum drittenmal. Da sah er mich aus vollständig fremden Augen zornig an, rief mir die Worte ‚El Mizan, die Waage der Gerechtigkeit‘ in einer Weise zu, als ob es mir das Leben kosten werde, falls ich ihn noch weiter störe. Darum wagte ich keinen weiteren Einwand und eilte hierher, um zu sagen, wie sehr ich mich ängstige. Denken Sie sich doch: Er, der Todesschwache, noch immer nicht Gerettete, der seine eigenen Gedanken noch nicht zu fassen und festzuhalten vermag, liest jene tiefen, schweren Stellen, die man nur dann verstehen und begreifen kann, wenn – – –“
Da lächelte Tsi sie fröhlich an und unterbrach sie mit den Worten: „Haben Sie keine Sorge, Mylady! Er hat, als er im Arm des Todes lag, an dieser entsetzlichen Waage der Gerechtigkeit gestanden, und grad ihr Anblick ist's gewesen, der ihn von seinen früheren Irrtümern befreite. Sein Geist hat jenen entscheidenden Augenblick nicht behalten können; das quält ihn, ohne daß er davon redet. Wenn er nun in dem Buch wiederfindet, was seinem Gedächtnis verlorengegangen ist, wird er innerlich klar und ruhig werden. Sie haben also nichts zu befürchten, sondern nur Gutes zu erwarten.“
Das klang so bestimmt, so überzeugt, daß es ihr unmöglich war, sich weiter zu ängstigen. Und dann, als wir vom Frühstückstisch aufgestanden waren und ich mir mit dem Governor auf dem Deck Bewegung machte, sagte dieser:
„Ich will aufrichtig gegen Euch sein, Sir. Noch bis vor kurzem wäre es mir sehr, sehr schwer geworden, einzugestehen, daß ich, meinen Beruf abgerechnet, auf geistigem Gebiet soviel wie nichts gewesen bin. Jetzt aber mache ich Euch dieses Geständnis in aller Form und Aufrichtigkeit. Nehmt es von mir an! Nach der wundersamen Szene dort in der Kajüte gibt es für mich keine rückständigen Menschen und Nationen mehr. Und von dieser Eurer ‚Waage der Gerechtigkeit‘ habe ich gelernt, einzusehen, daß ich den Wert der denkenden Geschöpfe bisher mit vollständig falschem Maß gemessen habe. Dieser Tsi ist mir über, vielleicht in jeder Beziehung außer der Geburt, und das will ja nichts sagen, wenigstens hier. Welche Klarheit und Sicherheit in seinem ganzen Wesen, in jedem seiner Worte! Ich alter Graukopf kann noch von ihm lernen. Und seine Landsmännin, die ‚Yin‘, das Bild in der Kajüte! Haben Sie gesehen, wie es im Licht zu leben und jedes Wort des Kranken zu verstehen schien? Ich habe da begonnen, die wahre Kunst zu begreifen, und denke nun auch über den Marmorkopf ganz anders. Diese ‚Yin‘ ist mir in den letzten Tagen so liebgeworden, daß es ein Verlust für mich wäre, wenn sie nur als Kunstwerk existierte, ohne auch als Original vor mir stehen zu können. So! Das mußte und wollte ich sagen, zunächst nur Euch. Verratet mich aber nicht. Werde schon selbst sprechen, wenn meine Zeit gekommen ist!“
Von jetzt an hatte Waller, wenn man zu ihm kam und er nicht schlief, das Buch stets in der Hand, und es war ihm anzusehen, daß er es nur ungern aus derselben
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