31 - Und Friede auf Erden
sprach, schaute ich ihn verwundert an. Er sah es, lächelte ein wenig und fuhr fort:
„Jawohl, ich bin nicht mehr der Alte. Ich schwieg. Warum? Aus Stolz, dachte ich. Es war aber nicht berechtigter Stolz, sondern Dummheit. Nun ich sehend geworden bin, habe ich auch gelernt, mich auszudrücken, in Wort und in Taten. Die Worte könnt Ihr allezeit hören; ich bin bereit, einem jeden zu sagen, was ich denke. Und die Taten liegen da drüben, jenseits des Wassers. Schaut hinüber! Was Ihr dort liegen seht, das ist ein heidnisches, ein vollständig heidnisches Land. Denn, glaubt es mir: Kein einziger von allen, die da wohnen, hat jemals aus dem Mund eines Christen die Worte gehört, daß sein Glaube, also der Glaube dieses Landes, ein falscher sei! Als ich mit meinem Freund Fu diese Gegend durchzog, um sie kennenzulernen, sah ich alle Vorzüge und alle Schattenseiten der chinesischen Kultur. Der Vorzüge waren viele, der Fehler nur wenige. Ein Lügner wäre ich gewesen, wenn ich behauptet hätte, daß diese Kultur eine falsche sei! Ich gab ihr das volle Recht, welches ihr gebührt, und ließ sie dann nach meiner Vereinigung mit Fu sich unter meiner Hand still fortentwickeln. Nun reiht sich Wiese an Wiese und Feld an Feld. Ihr geht auf Wegen und Straßen immerfort zwischen Fruchtbäumen dahin. Der Draht des Telefons und Telegrafen begleitet Euch. Ihr kommt an Wagen, Reitern, Sänften, Fußgängern vorüber, und jeder dieser Begegnungen ist eine freundliche, ich möchte sagen, herzliche. Teilt sich der Weg, so geht es links nach der Stadt, rechts aber hoch hinauf nach Raffley-Castle. Sähet Ihr nicht an der Kleidung der Menschen, daß Ihr Euch in China befindet, so würdet Ihr annehmen können, in Old England oder Deutschland zu sein. Weit draußen, am fernsten Horizont, ragen Berge, gewaltige Phonolithmassen aus der Tertiärzeit. Auch der Berg, auf dem wir uns jetzt befinden, gehört zu dieser Gruppe, zu deren Füße die ewig arbeitende See eine unendlich fruchtbare, allmählich ansteigende Ebene abgelagert hat. Auf halber Höhe liegt mein Raffley-Castle, mein Paradies, geschützt vor kalten Winden. Wie freue ich mich: heut abend bin ich dort!“
„Heut abend schon?“ fragte ich.
„Ja, selbstverständlich. Die Pflichten der Gastlichkeit veranlassen uns, Ocama fast noch gleich in dieser Stunde zu verlassen, damit wir Euch morgen, wenn Ihr zu uns kommt, ohne Mangel an Vorbereitung empfangen können. Yin bittet mich, es Euch anzuvertrauen, daß wir uns ohne alles Aufsehen, also fast heimlich, entfernen werden. Die andern kommen dann bereits morgen zu uns, weil Fang und Tsi ihren Patienten nicht länger, als unbedingt nötig ist, hier an der Küste bleiben lassen wollen.“
Während er dies sagte, machten wir eine Wendung, um die Stelle, an welcher wir standen, zu verlassen. Da sahen wir zwei Personen aus dem Haus kommen und nach dem Garten gehen – – – der Governor und Yin. Sie schauten nicht nach unserer Seite her und gingen also von weitem vorüber, ohne uns zu bemerken.
„Habt Ihr es gesehen?“ fragte John. „Sie hatte bei ihm eingehängt! Was habe ich gesagt? Als auf der Jacht der ‚Uncle‘ so Arm in Arm mit Tsi verschwand?! Da sagte ich zu Euch: Ich bin überzeugt, daß er schon in den nächsten Tagen auch mit meiner herrlichen Yin genauso Arm in Arm promenieren gehen wird. Und nun ist es geschehen! Stören wir sie nicht! Ich gehe hinab in den Hafen, um unsere Flucht still vorzubereiten. Lebt wohl!“
Wir reichten uns die Hände. Er ging durch das Haus nach vorn, ich aber hinauf nach meinem Zimmer, wo ich den Sejjid beschäftigt fand, meine Habseligkeiten in und unter die verschiedenen Möbel zu verteilen.
„Sihdi“, redete er mich an, „nun sind wir endlich und wirklich in China angekommen! Wie freue ich mich, daß ich nun nur noch chinesisch mit dir reden darf!“
Das hatte er arabisch gesagt; ich antwortete ebenso:
„Wer hat dir verboten, arabisch oder deutsch mit mir zu reden?“
„Ich selbst, Sihdi. Denn schau, was ich dir zeigen werde!“
Er zog aus der tiefen Tasche seines Kaftans ein Paket hervor und schlug es auseinander. Es war eine ganze Anzahl engbeschriebener Papierbogen.
„Hier steht die ganze chinesische Sprache“, erklärte er mir. „Ich habe sie mir aufgeschrieben. Es sind über vierhundert Worte, die etwas sind, und beinahe fünfhundert Worte, die etwas tun. Auf den hintersten Seiten stehen dann die Worte, die nichts sind und auch nichts tun. Ich werde sie dir
Weitere Kostenlose Bücher