31 - Und Friede auf Erden
Donner der begeisterten Hipp, Hipp, Hurra und Vivat erzitterte, hatte ich mein armes, kleines, dünnes Stimmchen erhoben und voller Angst gebettelt: „Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein!“ Das war lächerlich; ja, das war mehr als lächerlich, das war albern. Ich hatte mich und das ganze Buch blamiert, und mir wurde bedeutet, einzulenken. Ich tat dies aber nicht, sondern ich schloß ab, und zwar sofort, mit vollstem Recht. Mit dieser Art von Gong habe ich nichts zu tun!
Nun ist es heute an der Zeit, den damals ausgelassenen Schluß hinzuzufügen. Das ist eine Arbeit, die mir Freude bereitet, eine Arbeit, die mir jeden Werktag zum Feiertag machen würde. Und es ist doch heut nicht Wochentag, sondern Sonntag. Die Fenster sind geöffnet, und auch meine Balkontür steht offen, grad so gegen Süden wie damals die Fenstertür im Kratong zu Kota Radscha, als der malaiische Priester von uns Abschied nahm. Es ist ein ebenso heller, sonniger Morgen wie damals auf Sumatra. Der Altan trägt ungezählte, blühende Pelargonien; auf den Tischen stehen herrlich duftende Reseden und Nelken, denn meine Frau, die immer engelsähnliche, weiß ganz genau, wie lieb mir Blumen sind. Von unten herauf steigen die köstlichen Grüße der Marschall-Niel-, La france- und Kaiserin-Augusta-Viktoria-Rosen. Die Blätter der Ölweide flüstern leise. Im leicht geaserten Baumschlag des Ahorn flötet ein Kehlchen. Das Rankengefieder der chinesischen Glyzinien steigt hoch am Haus und zu seiten meiner Fenster bis an das Dach empor, mit genau solchen Ferndurchblicken wie von meiner Wohnung aus auf der großen Sundainsel. Es ist mir, als ob ich mich heut in dieser Wohnung befände. Ich denke mich in sie zurück. Das Zimmer Raffleys nebenan steht offen. Ich trete hinein. Er sitzt mit dem Onkel und dem alten Heidenpriester am Tisch. Der letztere ist gekommen, um uns Ade zu sagen – – –
Da ertönen die Glocken; es wird geläutet. Ich rufe mich aus Sumatra zurück, um mich zu besinnen, daß ich mich körperlich in Radebeul befinde. Ich wohne da in unmittelbarer Nähe der Kirche. Man läutet zum ersten Mal. In einer halben Stunde erklingen die Glocken zum zweiten Mal, zum Zeichen, daß der Gottesdienst beginne. Da sehe ich die allsonntäglichen Kirchenbesucher an meinem Haus vorübergehen. Gehe ich auch? Ich greife zur Bibel, um nachzusehen, über welche Stelle heut gepredigt wird. Es ist der Text Matthäus 5, Vers 20 bis 26. Da heißt es:
„Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich eingehen. – Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder saget: Raka, der ist des Rates schuldig; und wer zu ihm sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig. Daher, wenn du deine Gabe nach dem Altar bringst und wirst da eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß deine Gabe vor dem Altar dort, und geh zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe. – Besänftige deinen Widersacher, solange du mit ihm noch auf dem Weg bist, auf daß der Widersacher dich nicht einst dem Richter übergebe und der Richter dich dem Diener überantworte und du in den Kerker geworfen werdest. Wahrlich, ich sage dir, du wirst von da nicht herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlt hast!“
Das war der heutige Predigttext! So stand da, genau so, in der Heiligen Schrift! Christus hat es gesagt, und da wir Christen sind, haben wir es wörtlich zu befolgen! Also, schon wer mit seinem Nächsten zürnet und ihn mit Worten beleidigt, der ist dem Mörder gleich, ist des Gerichtes, des Rates und des höllischen Feuers schuldig! Der Christ soll sich nie zum Gottesdienst wagen, wenn er sich nicht zuvor mit seinen Widersachern ausgesöhnt hat! Und er soll niemals und keinen Augenblick zögern, Verzeihung zu erlangen, denn es wird ihm von seiner Schuld an seinem Nächsten kein einziges Jota und kein einziger Heller abgelassen werden!
Soll ich heut in die Kirche gehen? Oder vielmehr, darf ich? So frage ich meine Widersacher! Wo ist der Christ, der nach diesem Wort seines Heilandes noch würdig ist, die Kirche zu betreten? Wie viele Menschen, die ihren Brüdern zürnen, die ihre Brüder beleidigten, die ihre Brüder hassen,
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